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Innensichten und Landkarten

Anmerkung: Der folgende Artikel könnte als Loblied auf NLP fehlverstanden werden. Es wird u.a. auch um „Werkzeuge“ gehen, die man man vielleicht aus NLP kennt. Aber ich glaube, dass auch Analytiker sich da so ihre eigenen Gedanken machen würden und im Verlauf einer Analyse zu ganz ähnlichen Facetten kommen könnten. Die Entstehungsgeschichte ist aber etwas anders und aus der Psychotherapie mit einer Klientin entstanden, die nun mal kein ADHS hat. Ich arbeite gerne mit inneren Bildern und lasse meine Klientinnen in der Therapie bildliche Assoziationen für ihre Symptomatik oder Gefühlslandkarten finden. Häufig gleich zu Beginn einer Therapie und in aller Regel so, dass ich keinerlei Vorgaben gebe, sondern auf Aussagen bzw. Metaphern so eingehe, dass ich sie sehr bildlich nehme. Zum Vorgehen (Emoflex…) empfehle ich erneut den Artikel „Fühlen in Bildern„.

Häufig kommen Klientinnen zu mir, die zunächst grosse Schwierigkeiten haben, Gefühle in Worte zu fassen, dafür aber sehr gut in Bildern denken bzw. fühlen können.
Dies war auch bei Mia der Fall (Name geändert), die ihre Gefühlslage („zerrissen“) mit einer Zeitung verglich, die Risse wie durch Katzenkrallen hat.

Ich habe sie diese Zeitung visualisieren lassen und dann nachgefragt, ob es weitere Ausgaben dieser Zeitung gäbe. Also eine Art „Archiv“ aller Zeitungsausgaben ihres Lebens (und quasi Vorlagen für die noch folgenden Ausgaben der Zukunft). Dies konnte sie sich sehr gut als Bild  vorstellen. Damit haben wir eine Technik aus dem NLP und anderen Therapierichtungen installiert, die man auch Timeline nennt. Derzeit ist ja Timeline u.a. durch Facebook bekannt geworden. Letztlich geht es um die Visualisierung von emotionalen Lebensereignissen in Form einer Linie. Wobei ich da keinerlei Vorgaben mache. Toll an diesem Werkzeug ist aber, dass man eben häufig an Erlebnisse kommt, die weit vor sprachgebundenen Erlebnissen liegen. Und man so an die frühkindlichen Erfahrungen und auch Wechselwirkungen im Familiensystem kommt (wenn man eben auch eine Überlagerung bzw. Wechselwirkugen mit den anderen Mitgliedern der Familie berücksichtigt).

Bei Mia tauchten die ersten Risse mit 11 oder 12 Jahren auf. Hier findet sich der biographischen Anamnese ein Bruch durch Umzug in eine andere Stadt. Interessant ist, dass nun fast sämtliche weiteren Zeitungen an der gleichen Stelle des Zeitungspapiers ähnliche „Risse“ aufwiesen. Bei genauerer Analyse der Bilder fielen ihr aber auch frühere kleinere Veränderungen auf, die aber eben noch nicht so ins Auge fielen. Dann mit 16 ein Zeitungsexemplar, das total zerstört bzw. schwarz und verklebt war (hier findet sich ein grenzüberschreitendes traumatisches Erlebnis). Interessant an der Timeline sind die Lücken bzw. eben auch scheinbar „unsichtbare“ Veränderungen. Es würde hier zu weit führen, zu erklären wie das in dieser „Bildersprache“ dann ausssieht bzw. natürlich auf die Notwendigkeit und Technik einzugehen, wie man die Risse „klebt“.

Ich könnte jetzt noch viel über die Bedingungen in der Ursprungsfamilie erzählen, die viele vermutlich als Idealfamilie beschreiben würden, andere vielleicht als Überbehütung. Darum soll es mir jetzt aber nicht gehen, wurde aber in Familiengesprächen thematisiert und wird auch weiter Bestandteil der Therapie und einer Elternintensivetherapiewoche sein.

In der vergangenen Woche haben wir jetzt Ressourcen gesucht. Sie beschrieb dabei völlig spontan ein positives Gefühl von „Klarheit“, das schon fast wie eine Sucht ist, wenn man es einmal erleben durfte. Wie ein klarer Tropfen reinstes Wasser aus einem Quell. Das man nicht verdrecken dürfe.

Sie habe (unbewusst) eine Spaltung von diesem Gefühl der Klarheit und Reinheit zu „Ausscheidungen“ vorgenommen. Dies beziehe sich auch auf das Essverhalten, in dem sie gute und eben dreckige bzw. ungesunde Lebensmittel kenne. Dies äußert sich dann auf der Symptomebene in Form von einem unangenehmen Gefühl bzw. „Blähungen“ im Bauch, die sie durch eine Kontrolle von Stuhlgang zu manipulieren versuche bzw. zu einer atypischen (anorektischen) Essstörung führte. .

Nun kam sie in der Gruppentherapie auf das folgende Bild, das ich sehr schön finde. Nicht nur für Mia, sondern für Therapie an sich.

Sie beschrieb einen Fluss, der von ihrer Quelle aus fliesst. Es geht zunächst darum, eine Verschmutzung zu verhindern.

Aus einer unendlichen Kette von Müllwagen wird aber immer wieder Dreck in den Fluss gekippt. Was sie nicht will. Dieser Müll führt dazu, dass das Wasser stinkt und verdreckt, jede Menge Unrat ist im Fluss. Meistens nicht ihr Müll, da sie sehr viel (sensibel bis hochsensibel) aufnimmt und annimmt. Am Rand des Flusses sitzt ein Angler, der dann Schuhe oder sonstigen Müll rausangelt – und wieder ins Wasser wirft (sie meinte, dass wäre ein früherer Psychologe, aber das sei jetzt mal offen gelassen).

Am Fuße des Flusses ist eine Art Stauanlage, aus der dann nur noch wenig Wasser weiterfliesst.
Hier ist eine Aufstauung der Dreckbrühe zu sehen. (Nach einigen Rechts-Links-Stimulationen über Klopfen auf die Oberschenkel verändert sich das Bild). Die Patientin beschreibt jetzt, dass fleissige Biber Holz und Dreck aus dem angestauten Fluss holen und sich daraus eine unwirklich aussehende Biberburg bauen.

Es sind 15 Biber. Die sich unterschiedlich verhalten bzw. unterschiedliche Gefühle zur Situation haben. Sie sind wütend, hilflos, traurig etc.
Eigentlich möchten sie an die Ursache der Müllverschmutzung, sind aber ja ständig damit beschäftigt, dass der Müll am Stausee nicht überhand nimmt. Und werden immer erschöpfter und wütender. Blöd, dass sie nicht so wirklich frei bzw. koordiniert handeln können, oder ? Teilweise auch destruktiv, aber eben kaum mit der notwendigen Zeit und Kraft, mal einen Gesamtüberblick bzw. Halt zu finden.

Nun ist es wichtig, dass es sich ja um ein immer und immer wiederkehrendes Ereignis handelt. Also eben die Timeline wieder ins Spiel kommen muss bzw. parallel dazu angeschaut werden sollte. Sinnbildlich also : Was würde in den Zeitungen jeweils zu dem Fluss bzw. der Umweltverschmutzung stehen, wie würde auf dieser Landkarte der Emotionen rechts und links vom Ufer die Umwelt darauf reagieren ? Welche klimatischen Bedingungen (Wetter) herrscht jeweils an den verschiedenen Stellen und Zeiten ?
Dieses Bild ist also sowohl in sich wie auch zeitlich gesehen veränderlich. Oder eben auch nicht, so dass immer und immer wieder die gleichen zeitlich in der Kindheit anzusiedelnden Schleifen ablaufen. Was die eigentliche Belastung ausmacht, weil es so unkontrollierbar geschieht.

Therapie muss hier also sowohl die aktuelle Situation wie auch die Ursachen bzw. Vergangenheit berücksichtigen und systemische Aspekte der Umweltverschmutzung nicht vergessen.

Nun haben wir uns nochmal ihre Zeitungen bzw. das Zeitungsarchiv angesehen. Auffällig ist, dass ihre innere Gliederung der Zeitungen anders als bei „Stinos“ ist. Der „Gesundheitsteil“ bzw. Nachrichten zu Essen und Verdauung haben hier höchste Priorität bzw. sind sehr weit vorn angesiedelt (bei einem Betriebssystem würde ich schreiben : Auf Bios-Ebene). Überhaupt hat die Zeitung eben übermässig viel mit Essen und Gesundheit und wenig mit anderen Lebensaspekten zu tun.

Es ist schon auffällig, dass eine „Störung“ sich eben in der Einseitigkeit der Themen auszeichnet. Eine Schmerzstörung würde also lauter Zeitungen voller Schmerzthemen haben, ein Journal über Anorexie eben einseitig Lebensmittel, die fälschlich mit Emotionen aussoziiert sind.
Wie zeichnet sich nun eine „frühstrukturelle“ Störung aus ? Das Gliederungssystem der Zeitung ist fehlerhaft bzw. fehlt oder ist symbiotisch geprägt. Hier kann man schon häufig sehen, dass die Auslöser sehr früh liegen. D.h. einfach gar keine klare Ordnung der Zeitung vorliegt, man sich also quasi in sich selbst nicht mehr zurechtfinden kann.

Und ja, es muss natürlich nicht immer ADHS sein ! Aber ADHS erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die inneren Strukturen eben anders bzw. weniger stabil entwickeln und einfach mehr Stress bzw. emotionale Eindrücke bei dünnen Reizfiltern bestehen.

Ich vergleiche das gerne mit Ablegern von Lokalzeitungen. Die übernehmen halt das Grundgerüst der „Mutter-und-Väter“-Ausgaben. Aber haben eben auch eigene Inhalte. Wenn die Gliederung der „Elternausgaben“ schon schwammig sind, wird es natürlich schwierig, eine eigene Struktur zu halten bzw. sich aufzubauen. Bei Essstörungen fällt beispielsweise auf, dass die Klienten häufig eine 1:1 Kopie der Mutter versuchen bzw. sich überhaupt nicht individuell entwickeln können. Dann wird irgendwann das Thema Essen zum Ersatz für die Entwicklung eines eigenen Gliederungssystem.
Wenn also der „Mutterkonzern“ nicht stabil und gesund ist, wird es der Tochterausgabe ungleich schwerer fallen mit Belastungen und Stressoren umzugehen. Eine Anorexie ist ein an sich „pfiffiger“ Versuch ein Ordnungssystem zu entwickeln. Klare Regeln, klare Strukturen. Aber eben total unflexibel. Ähnlich eine Zwangsstörung oder andere „Störungen“. Störungen sind demnach auch Lösungen für eine innere Unruhe bzw. Strukturlosigkeit.

Hier spielt also die „Landkarte“ der Eltern eine grosse Rolle. Das ist ein Grund, warum man Familientherapie macht. Aber auch, eben neurobiologische = vererbte Aspekte zu berücksichtigen. Die Landkarten der Kinder sind also quasi aus Formatvorlagen der Eltern und anderer Bezugspersonen entstanden. Gleiche „Struktur“, aber eigener Inhalt.

ADHSler sind „Universaldilettanten“. Sie haben nicht eine innere Landkarte, sondern eben zu viele und keinen funktionierenden Kompass, so dass sie dann quasi nach dem Zufallsprinzip bzw. der emotionalen Voraktivierung unter Stress bestimmte Muster impulsiv anwenden. Einige häufiger, andere eben selten oder nie. Und bei Ruhe bzw. guten äußeren Strukturvorgaben weit besser als bei emotionalen (heissen) Situationen. Sie lernen auch nicht so gut aus Erfahrungen und Fehlern, d.h. ihre inneren Zeitungen wären total ungeordnet und ein Zugriff auf Alterfahrungen ist kaum möglich, da das Archiv lückenhaft wie die Heftführung vieler Azubis mit ADHS ist. Und das Suchen bzw. die Neuorientierung dann lange dauern kann oder immer und immer wieder zu den gleichen Verhaltensmustern führt.

Bei ADHS-Klienten fällt häufig auf, dass eben die Timeline häufig keine chronologische Ordnung hat und bei Stresserlebnissen eben sowohl alte wie auch aktuelle Emotionen zu einem Überfluten führen. Das kann natürlich auch ohne ADHS passieren. Aber die Reizfilterschwäche bzw. auch die Anhäufung von emotionalen Problemen in der Kindheit sind eben auch Ursachen dafür, dass gehäuft Probleme entstehen.

Es gibt nun genug Belege dafür, dass die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bei ADHSlern anders als bei den Stinos läuft. So wie eben auch die Bildzeitung anders aussieht als eine Frankfurter Allgemeine. Wenn man aber die falschen Erwartungen an die innere Struktur hat, wird man sich auch mit dem Inhalt kaum anfreunden können.

In guten ADHS-Büchern würde man zunächst also auf die neurobiologischen Grundlagen von ADHS bzw. den Wahrnehmungs- und Informationsbesonderheiten eingehen. Auf Kommunikationsmuster bzw. eben Ursachen und Umgang mit Stress. Diese „Andersartigkeit“ entschuldigt nicht, dass es Probleme gibt. Aber es ist eben doch ein Unterschied, ob man nun nach frühkindlichen Konflikten bzw. Überversorgung / Vernachlässigung sucht. Und es ist für die Behandlung auch essentiell, dies zu unterscheiden.

Über die Timeline bzw. inneren Landkarten kann man das durchaus differenzieren.

Voraussetzung : Wenn nun der Therapeut seine eigene Landkarte zum Maßstab von „Gesundheit“ macht, kann es zu Problemen kommen. ADHSler stossen Fremdkörper ab. Analytiker wiederum halten sich für die einzig „neutralen“ Menschen des Planeten. Also eben als der Nullmeridian der Gefühlswelt. Worüber man sehr geteilter Meinung sein kann. Das artikulieren dann einige ADHSler, was dann vom Therapeuten als Widerstand gedeutet wird 🙂

Entweder man geht also täglich zum Analytiker und eicht sich an seinem Wertesystem und lässt sich einnorden. Oder aber man lernt, sich in seiner Emotionslandkarte zu orientieren. Ersatzweise auch kombiniert.

MPH hilft eine Positionsbestimmung vorzunehmen. Es verändert aber nicht die Karten und Erfahrungen.

Ein Gedanke zu „Innensichten und Landkarten

  • Bin grade sehr begeistert über die sich abzeichnende Verbindung von emoflex zur Systemik. Die suche ich nämlich.

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