ADHS KinderAllgemein

ADHS und Exekutivfunktionen (Teil 2)

Die Beschreibung von den sogenannten Exekutivfunktionen bzw. die genaue Zuordnung ist derzeit bei verschiedenen Autoren noch unterschiedlich. Letztlich geht es aber eben um „Steuerungsprozesse“ bzw. die Koordination von Aufgaben, die man recht typisch bei ADHS-Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen findet.

Bei der Beurteilung ist immer der entwicklungspsychologische Aspekt wichtig. Man spricht hier auch von einer Entwicklungsstörung der Selbstbeherrschung, da das Kind sich eben weit „kindlicher“ verhält, als es der Anforderung in der Klassenstufe entsprechen würde. Natürlich darf und soll ein Kind Kind sein. Aber Schule stellt eben auch Erwartungen, die dem jeweiligen Alter des Kindes entsprechen sollte. Das ist an sich schon heikel. ADHSler können nun aufgrund der verzögerten Ausreifung dieser Selbstbeherrschungsfunktionen weit mehr Aussensteuerung brauchen als ihre Klassenkameraden.

1. Beginn von Aktivitäten
Fast allen Eltern wird es bekannt vorkommen, dass ein Kind scheinbar unüberwindbare Probleme hat, mit seinen Hausaufgaben zu beginnen. Eine emotional wenig positiv besetzte oder wiederkehrende Aufgabe kann für das ADHS-Gehirn zur scheinbar riesigen Barriere werden.

Es hängt von der emotionalen Voraktivierung durch einen Anreiz oder aber eine Person ab, ob nun eine Aufgabe quasi „babyleicht“ oder aber unlösbar erscheint. Nicht das Wissen und die realistische Dauer oder der Aufwand der Aufgabe bestimmt dabei die Ausführung. Vielmehr ist das ADHS-Gehirn im „Ruhezustand“, quasi im Stand-by-Modus.

Ist das denn nicht bei allen Kindern so? Wer macht schon gerne Hausaufgaben? Nun, die Besonderheit ist, dass es für die ADHS-Kids schon einsichtig ist, dass die Aufgabe angegangen werden MÜSSTE. Typisch ist, dass sie es aber allein nicht schaffen.

Ein scheinbar merkwürdiger Tipp für diese Art von Problemen ist, dass die Mutter oder eine andere Person zwar bei den Hausaufgaben im Raum ist, sich aber nicht mit den Hausaufgaben des Kindes beschäftigt und diese kommentiert, sondern beispielsweise bügelt oder eine andere Aufgabe erledigt. Dies reicht häufig, um quasi eine Art „Vorglüheffekt“ der Aufmerksamkeit zu erreichen und die Aufgabe zu beginnen.

Sehr hilfreich ist es auch, wenn Hilfsbereitschaft mit in die Aufgabenstellung kommt. Das ist nun bei Hausaufgaben nicht so leicht. Aber wenn die Aufgabe mit einem Projekt bzw. einer konkreten Funktion verknüpft ist, wird es leichter. Daher ist es in der Klasse auch sehr sinnvoll, ADHS-Kindern mit speziellen Verantwortungen (z.B. ein Terrarium oder eine Pflanze) zu beauftragen. Diese Aufgaben erledigen sie meist sehr gewissenhaft.

2. Inhibition / sich bremsen können
ADHS erklärt man Kindern auch gerne mit dem Vergleich einer mangelhaft ausgelegten Bremse. Während die eigene innere Energie für ein Formel 1 – Auto reicht, sind die Bremsen grad für ein gutes Moutain-Bike ausgelegt. So wie der Beginn einer Aufgabe schwierig ist, so gelingt auch das situationsangemessene Bremsen nicht. ADHSler handeln (und sprechen) ohne ausreichend nachgedacht zu haben bzw. die langfristigen Konsequenzen zu überdenken. Sie haben ihr Herz auf der Zunge.
Aber das bedeutet im Unterricht vielleicht auch, dass man ständig unterbricht. Da kann auch das geringe Arbeitsgedächtnis (siehe unten) eine Rolle spielen. Aber ein ADHSler möchte sofort die Antwort in die Klasse „brüllen“. Abwarten ist eine innere Qual.
Aber auch so fällt es ADHSlern schwer, quasi die Bremse zu ziehen und dann zu stoppen, wenn es die Situation oder eine andere Person erwartet.

Diese Störung der inneren Impulskontrolle kann sich dann auch in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen fortsetzen. Neben dem „Sprechdurchfall“ mit ungebremsten Rededrang der kleinen und grossen Plappermäuler kann es sich beispielsweise auch im Kontrollverlust beim Essen oder aber auch Alkohol / Drogen zeigen.

3. Wechsel von Aufgaben / Aktivitäten
Häufiger als bei „Stinos“ hat man bei ADHS-Kindern den Eindruck, dass es „klemmt“. Das Umstellen auf eine neue Sitution, eine Aufgabe oder auch Stimmungslage scheint manchmal einfach nicht klappen zu wollen. Auch kleben sie quasi an einem Detail oder einem besonderen Aspekt eines Problems, während der Unterricht oder das Gespräch schon längst viel weiter ist. Zweifelos kann es wertvoll sein, sich auch mal intensiv mit einem speziellen Aspekt eines Problems zu beschäftigen. Aber gerade bei den nach aussen ja häufiger eher „flüchtig“ oder oberflächlich wirkenden Kids verwundert es dann die Lehrer bzw. ihr Umfeld doch, wie schwer sich die Umstellung auf eine neue Situation herausstellen kann. Es muss häufig „so wie immmer“ sein. Sei es beim Essen (ständig das gleiche Essen), sei es bei bestimmten Reihenfolgen etc.  So kann jede Umstellungsanforderung wie beispielsweise eine neue Lehrerin zu Problemen führen.

4. Zeitwahrnehmung
Ob nun das Zeitgefühl zu den Exekutivfunktionen gehört, ist umstritten. Unbestritten ist aber die Beobachtung, dass für viele ADHSler der Umgang mit ZEIT-Räumen schwierig ist. Für viele (naturgemäss nicht ALLE) ADHSler gibt es entweder „JETZT“ oder „NIE“. Was nicht sofort erledigt wird, ist vergessen. Es gibt aber auch kein wirkliches Gefühl für die Dauer von Aufgaben. Im Kopf ist häufig schon eine (in Worten EINE) Lösung gefunden, die dafür notwendige Zeit wird aber völlig vernachlässigt.
Typisch für ADHSler ist das Aufschieben (Prokrastination) bis zum letzten Moment. Erstaunlich genug können dann viele ADHSler in diesem viel zu knappen Zeitraum ganz erstaunliche Leistungen vollbringen…

Wie für viele weitere Störungen der höheren Handlungsfunktionen liegt also quasi eine Art innere „Fehlsichtigkeit“ vor.

5. Selbstverbalisierung / Innerer Monolog
Zur Planung und Durchführung von Aufgaben gehört auch der innere Monolog.

Aber auch weit höhere Leistungen wie die Zielsetzung, das Beibehalten von Zielen, der Umgang mit Unterbrechungen und Ablenkung, der Neustart oder das Verfolgen von mehreren Aufgaben gleichzeitig sind typische „Baustellen“ für ADHSler.

In Teil 3 geht es dann darum, wie man aus typischen ADHS-Symptomen eher auf die Störungen der Exekutivfunktionen schliessen kann. Oder aber: Nicht jedes Symptom, das wie ADHS aussieht, ist auch auf eine Störung der Handlungsfunktionen zurückzuführen …

3 Gedanken zu „ADHS und Exekutivfunktionen (Teil 2)

  • Martin Oberngruber-Steinecker

    Erstaunlich. Im Gegensatz zu vielen sonstigen Veröffentlichungen oder gar pädagogischen Diplomarbeiten hier eine Darstellung, die völlig konsistent mit meinen Beobachtungen geht.
    Ich bin Educated Peer. Also ein ADHS-Mensch mit Ausbildung, und habe daher sowohl die Innensicht als auch die Außensicht und Erfahrung mit zahlreichen ADHS-Klienten und deren Familien.

    Antwort
  • Etwas allgemeiner gefragt: Welche neurologischen Unterschiede gibt es zwischen ADHS und ADS? Gibt es dazu Antworten von MRI o.ä. ? Danke.

    Antwort
    • Martin Oberngruber-Steinecker

      Das würde mich auch interessieren.
      Überhaupt: wie gesichert sind die derzeitigen Ansichten über neurologische Besonderheiten unserer ADHS Gehirne?
      Vor 20 Jahren hat ein Primararzt in seinem Vortrag noch von anders verlaufender Zucker-Verstoffwechslung gesprochen, was mittlerweile vom Tisch ist, glaube ich. Und es gibt auch Professoren, zumindest einen, der einen Dopamin-Überschuss in die gleichen Daten interpretiert.

      Antwort

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