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Keine Stärken?

Tobias Eltern werden vom Klassenlehrer angerufen und zu einem Elterngespräch gebeten. Soweit so gut oder schlecht.

Im Gespräch berichtet der Deutschlehrer, dass Tobias bei der letzten Stillarbeit zum Thema eigene Stärken und Schwächen so überhaupt keine eigenen Stärken gesehen bzw. aufschreiben konnte.

Dafür stand da:

„Ich kann gar nichts“.

Der Lehrer reagierte bestürzt und wollte von den Eltern wissen, wie es denn sein könne, dass sie so wenig auf die Vermittlung von Stärken achten würden. Ob sie ihn denn auch mal loben würden?

Schön, wenn ein Lehrer sich so engagiert. Denn das Problem ist den Eltern wohl bekannt …

Und tatsächlich bemühen sich die Eltern auch, ihrem Tobias jede Menge Erfolgserlebnisse zu verschaffen. So ist er ein begeisterter Kletterer, spielt gerne Theater, spricht fast muttersprachlich eine Fremdsprache, ist hilfsbereit und freundlich zu älteren Menschen und überhaupt ein ganz toller Kerl.

Die Lehrer meinen nun, Tobias müsse mehr alleine sich Erfolge erarbeiten und sehen, dass es über Anstrengung klappt. Dass er über Ausdauer zu Zielen kommt. Anstrengung führt zu Erfolgen, die man sich selber zuschreiben kann.

Man müsse quasi an seine Vernunft und Selbstständigkeit appellieren.

Im nächsten Satz meinte er aber, dass er nicht so viel vergessen dürfe. Schliesslich benötige man auch in Musik oder Mathematik die Arbeitsmaterialien ….

Ah ja. Nicht verstanden hat der Lehrer, dass bei Tobias eine Selbststeuerungsproblematik vorliegt. Dass eben ein pädagogischer Appell zwar nett und schön, aber unbrauchbar ist. Das man Tobias eher bei Erfolgen permanent verstärken = loben muss. Dass man aber auch erkennen sollte, dass er sich JA GERADE SCHON MAXIMAL ANSTRENGTE. Und dennoch eben sowas wie Erfolge für ihn in diesen Momenten nicht sichtbar bzw. spürbar war bzw. sind.

Noch mehr Anstrengen führt zum Zusammenbruch, nicht zur Effizienzsteigerung. Oder aber anders ausgedrückt: Noch mehr Anstrengen ist eine sichere Garantie dafür, später bei mir in der Klinik zu landen …

Für die Eltern stellt sich also die Herausforderung zwischen Verantwortung abgeben bzw. übernehmen. Zwischen Kontrolle und Vertrauen.  Zwischen Ermutigen und Realität aufzeigen. Oder zwischen schützen und „ins offene Messer laufen lassen“.

Eltern müssen hier ständige Motivationsarbeit leisten. Auch oder gerade dann, wenn es scheinbar nicht dazu führt, dass das Selbstwertgefühl sich positiv verändert.

Dass „Sponsoring“ der Eltern ein Kind dann motiviert bzw.  es in der Spur zu halten versucht, ist dann häufig ein Seiltänzerakt. Einerseits will und kann man es nicht ständig beaufsichtigen und ihm Verantwortung und Kontrolle nehmen, andererseits kommt es mit der Eigensteuerung, d.h. dem alleine Arbeiten noch nicht so zurecht, wie man es vom Alter her erwarten würde. Ein ADHS-Kind kann aber gerade eben nicht aus Erfolgen so einen positiven Rückschluss auf Stärken bzw. Selbstwert herstellen, wie man es bei Normalos erwartet.

Man könnte fast sagen, Tobias hat ein „Belohnungs-Defizit-Syndrom“ (im englischen gibt es diese Bezeichnung tatsächlich als Reward-deficit gerade im Zusammenhang mit Sucht- und ADHS-Problemen.

Tobias reagiert schnell und empfindsam auf den Hauch von Kritik bzw. Ablehnung. Das kommt quasi ungefiltert und als unumstössliche Wahrheit in seinem Gehirn an, brennt sich quasi auf die Festplatte des Gehirns.

Positive Erlebnisse bzw. Erfolge scheinen dagegen flüchtig wie Seifenblasen zu sein. Dies gilt umso mehr, wenn eine Aufgabe über Versuch und Irrtum bzw. Lernen aus Fehlern besteht und sich die Kindern zu einer Lösung vorarbeiten müssen.

Wenn nicht sofort und unmittelbar das Ergebnis im Kopf ist bzw. eine unmittelbare Belohnung erfolgt, dann kippt die Stimmung. Aber nicht nur die Stimmung, vor allem die eigenen Gedanken und Selbstzuschreibungen. Das bezeichnen die Verhaltenstherapeuten dann auch als negative Selbststeuerung.

Nun gibt es ADHS-Experten wie Fritz Jansen, die das Phänomen schon gut beschreiben bzw. ein Zeitfenster von 1 Sekunde zum Positiven Lernen setzen.

Eltern bzw. Lehrer müssten also unmittelbar das Kind verstärken = Loben und Anfeuern.

Was nicht nur für die Eltern, sondern gerade für die  Schule eine Herausforderung darstellt.

6 Gedanken zu „Keine Stärken?

  • Pingback: Der Druck zur Anpassung oder das Unwissen der Umfeld | AnDerSsein

  • papillonindigo

    Ich komme da etwa spät, aber hatte seit eine Weile diese Blog nicht mehr gelesen und merke wieder dass ich an die Texten immer so viel Freude habe, so viel sie mich aus der Seele reden.

    „Ich kann nichts“ ist mich so bekannt! Nun heute, denke ich anders, nähmlich: „Ich kann vieles, wenn ich nicht wie Normalos es machen muss“. Ich habe wirklich aufgehört wie Normalos zu machen und suche mein Weg… Nun, dafür hatte ich doch 40 Jahren gebraucht…

    Ich hatte fast Bauchschmerzen wenn ich gelesen habe was die Junge laut Lehrer noch schaffen sollte… Kommt mich so bekannt vor, in der Schule, aber auch am Arbeit… Dann keine Wunder wenn es immer zwischen die Zeile mitgeteilt wird dass man es wie „Normalos“ es schaffen sollte, dass es nie klappt…

    Ich musste mich auch am Arbeit abgrenzen und durchsetzten dass ich einiges einfach nicht so kann, dass ich anders ticke und… Vieles kann ich sehr gut, es wird auch gesehen…

    Antwort
  • Hallo Herr Winkler,
    ich kenne dieses Verhalten und die zugrunde liegenden Empfindungen nur allzu gut.
    Und ich bin heute fast 48 Jahre alt.
    Wie finde ich einen geeigneten Therapeuten oder geeignete Ansprechpartner?
    Alle bisherigen Ansprechpartner sind direkt nur für Meditation zuständig und verweisen mich auf ’normale‘ Psychotherapeuten.
    Bei den Therapie Ansätzen erkenne ich direkt die geschilderte Vorgehensweise wieder, die sie oben beim Lehrer als nicht zielführend aufgezeigt und begründet haben.
    Wohin soll ich mich wenden?

    Schöne Grüße,
    Stephan

    Antwort
    • Oh je…. Tja, letztlich ist es entweder Glückssache bzw. Empfehlung von Selbsthilfegruppen. Ich kann da auch nicht weiterhelfen.
      Grundsätzlich stellt sich das Problem, dass Verhaltenstherapie ja auf Lernen basiert bzw. auf Verstärkerprinzipien. Die aber eben syndromtypisch nicht so funktionieren, wie ein Verhaltenstherapeut es erwartet.
      Tiefenpsychologische Verfahren sind da noch weniger hilfreich, besonders wenn der Therapeut seine Fantasien in den Patienten projiziert.

      Ich selber bin ein Anhänger von imaginativen Threapieverfahren (z.B. Emoflex.de). Aber auch die sind ja nicht flächendeckend verfügbar.
      Vielleicht sollte ich schreiben : Ich empfehle mich selbst ? Macht man ja sonst nicht. Aber im Kern wird es hier in Bad Kösen bzw. auch in Workshops (z.B. auf der Familienfreizeit in Kukuk bei http://www.tokol.de) oder demnächst auch hier in Bad Kösen noch am ehesten um die regulationsdynamischen Besonderheiten von ADHS und Selbstwertbesonderheiten gehen.

      Antwort
  • Ach, der Gedanke ich kann gar nichts, verfolgte mich durch meine ganze Kindheit.
    Zum Glück weiss ich heute, dass ich viel kann und mehr Energie habe als Stinos!
    Aber ich werde versuchen wieder häufiger daran zu denken, unseren Träumer Sohn zu loben! Der soll das aufsaugen wie ein Schwamm, damit er fürs Leben genug gerüstet ist.

    Antwort
  • Unsinnstifter

    Eine Möglichkeit wäre vielleicht ein Art „Kommunikationsmodell“ mit aufbauender! Kommunikation zu verfassen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn auch die Erkenntniss „Ich kann gar nichts“ läßt sich positiv auswerten und als Lob an den Nachwuchs weiter reichen. Wer sich selbst kritisch sehen kann, erkennt die Notwendigkeit einer Entwicklung an. Entwicklung ist dabei Lebensweg und der führt über die Schule und zum lernen dafür ist der Kleine ja an der Schule!

    Sich zuzubilligen das man eigentlich nichts kann, kann man auch als eine besondere Eigenschaft überführen, z.B. in Demut. Sich nicht überheblich zeigen, nicht überbewerten. Die eigenen Eigenschaften, die oft mehr oder weniger nur angeboren sind und überhaupt nichts mit Leistungserbringung und daraus folgendem Können zu tun haben, nicht über den Klee loben.

    Es geht aber leider nur in der Gesellschaft darum die Menschen zurechtzustutzen im Betrieb und dafür muss jeder so sein wie die Normung es vorsieht damit er am Arbeitsmarkt tauglicher Marktschreier wird. Dafür gibts die Schule nun mal primär, mit Bildungsidealen hat das alles nur wenig zu tun. Und genau das ist Schade und bringt Kinder mit Besonderheiten aus dem Takt. Wenn Eltern so etwas nicht abfedern wirds eng…

    Antwort

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