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Verringert Medikinet oder Ritalin das Körperwachstum?

Mit einer schönen Regelmässigkeit wird in Sachen Langzeitnebenwirkungen von Psychostimulanzien (Methylphenidat bzw. Amphetamine) folgender Mechanismus genutzt: 1. In einer Veröffentlichung wird eine Behauptung aufgestellt, dass bei längerfristiger Einnahme von Methylphenidat eine Nebenwirkung auftreten könnte. Die sei zwar selten, aber möglich. 2. Daher sei Sorge angebracht. Und möglichst weitere Forschung. 3. Die ADHS-Selbsthilfegruppen bzw. ADHS-Exerperten reagieren verwundert, aber offen. Zwar haben sie diese angeblich so besorgniserregende Nebenwirkung in den 60 Jahren seit der Einführung dieser Präparate nicht nennenswert häufig gesehen. Eigentlich wurde darüber noch nie berichtet in den Gruppentreffen oder auf Symposien. Aber wer weiss, vielleicht hatten sie ja ein Aufmerksamkeitsdefizit für diese Nebenwirkung. Und immerhin: Aufpassen schadet nicht. 4. Aus dieser einen Behauptung der Nebenwirkung XYZ wird nun von einigen Leuten postuliert, dass die Medikamente gefährlich seien. Dies wiederum löst bei ADHSlern eine Art Alarmierung mit einem Gefühlsabsturz bzw. einer unvollständigen Wahrnehmung und Beurteilung der Situation aus. Wir erinnern uns: Nur bei positiver Voraktivierung des Frontalhirns ist die Urteils- und Wahrnehmungsfähigkeit vollständig. Sonst wird eben vorschnell urteilend bzw. einseitig bewertend und leider eben auch nur selektiv wahrgenommen. Allein die Ankündigung einer möglichen Gefahr lässt aber nun das Gehirn zu einer vorschnellen Reaktion verleiten. Gerade dann, wenn man selber ADHS hat und keine Medikation nimmt. Und dann möglicherweise vorschnell die Medikation für sein Kind oder sich in Frage stellt. Sicher keine gute Idee. 5. Es kommt zu einer weiteren Ausweitung der Besorgnis, weil wiederum andere Leute von den Leuten unter 4. gehört haben wollen, dass die Nebenwirkung so häufig und gefährlich sein soll. Die Apothekerin einer gesetzlichen Krankenkasse weist darauf hin, wie gefährlich diese Nebenwirkung ist. Und drückt damit eigentlich aus: Wir wollen die ADHSler nicht bei uns in der Versicherung haben. Weil wir nämlich weder die Medikamente noch eine Psychotherapie zahlen wollen. Schon gar nicht irgendwelche multimodalen Therapienangebote, da die dann richtig ins Geld gehen. Dies wird im Stern veröffentlicht. Aber eben auch nur als Halbwahrheit. Im Spiegel greift Herr Blech das Thema auf. Schliesslich will sein Buch verkauft sein. Die Nebenwirkungs-Desinformations-Spirale nimmt weiter Fahrt auf. 6. In der Öffentlichkeit ist von der ursprünglichen Meldung überhaupt nichts mehr bekannt. Dafür kommt es bei nicht mit der Materie vertrauten Personen zu Verwechslungen von Medikamenten, Symptomen oder Krankheitsbezeichnungen. Das wiederum schafft bei den ADHS-Betroffenenen bzw. den Eltern neue Sorgen, weil sie jetzt von Lehrern, Kindergärtern und den eigenen Angehörigen auf diese neue gefährliche Nebenwirkung angesprochen werden. Natürlich geht es jetzt schon lange nicht mehr um die unter Punkt 1 genannte Nebenwirkung. Möglicherweise auch schon gar nicht mehr um ADHS. Aber es wird halt in einen Topf  geworfen. 7. Alle möglichen und unmöglichen Medien springen spätestens JETZT auf den Zug und finden eine Mutter, die auch tatsächlich bestätigt, dass ihr Kind mal Nebenwirkungen von Medikamenten gehabt haben könnte. Dabei wird fast immer die gleiche Mutter und das gleiche (nicht selber gefragte) Kind in den Medien zur Schau gestellt. Und so weiter…. Zuletzt hatten wir die Behauptung, dass Stimulanzien das Längenwachstum des Kindes negativ beeinflussen könnte. Wir sprechen hier von maximal 1 cm.  Aber wenn es schon die Knochen verändert, was tut das Medikament bloss sonst noch ? Nun sind weder mir noch anderen Ärzten und Psychologen übermässig viele zwergwüchsige ADHSler bekannt. Eigentlich nun überhaupt KEINER. Ob nun irgendwo ein Kind tatsächlich kleiner als gewünscht ist, kann man nicht ausschliessen. Was man weiss: ADHS-Kinder weisen Entwicklungsverzögerungen auf, so dass sich das Längenwachstum eben nicht direkt mit der „Altersnorm“ anderer Kinder vergleichen lässt. Aber sie holen ihre Alterskameraden eben dann etwas später wieder ein. Mit oder ohne Stimulanzien. Das sagt der gesunde Menschenverstand. Einfach, weil es sonst in über 60 Jahren Medikationsanwendung eben schon zu mehr Berichten von nennenswerten Problemen im Knochenstoffwechsel gekommen sein müsste. Was aber nicht der Fall ist. Nun hat eine aktuelle Studie mal über mehr als 20 Jahre nachuntersucht, was denn dran ist an der angeblich so relevanten Nebenwirkung Beeinflussung des Längenwachstums. Die Antwort: NICHTS. Was wurde nun untersucht. Im sog. „Rechester Epidemiology Projekt“ wurden 340 Kinder mit ADHS eingeschlossen, 171 Kinder erhielten Stimulanzien. Man verfolgte dabei Kinder aus den Jahren 1976 bis 1982 und schaute, was nun aus ihnen später geworden ist. Die ADHS-Kinder begannen im Schnitt mit 10 Jahren mit der Psychostimulantien-Therapie (Strattera wurde hier nicht mit einbezogen, da es „erst“ seit 2002 auf dem Markt ist. Die meisten Kinder erhielten die Medikation über einen Zeitraum von 4,5 Jahren). Dr. William Barberesi vom Boston Kinderkrankenhaus stellte fest, dass es keinen signifikanten Unterschied in der endgültigen Körpergrösse gab. Allerdings gab es eine Wachstumsverzögerung von ca. 6 Monaten, d.h. die ADHS-Kinder haben eben ein halbes Jahr später die Körperlänge erreicht, die sie erreichen können. Mit und ohne Medikation. Ich möchte nun mögliche Nebenwirkungen der Langzeitanwendung von Medikamenten nicht verharmlosen. Aber ich vermute, dass eben diese Ergebnisse der Unbedenklichkeit von Methylpenidat auf das spätere Wachstum eben nicht in der Öffentlichkeit im Spiegel oder Stern diskutiert werden. Und bei der nächsten Gelegenheit Blech und Co die nächste Unruhewelle nutzen werden.

7 Gedanken zu „Verringert Medikinet oder Ritalin das Körperwachstum?

  • Hier ein Link zu einer Studie, deren Ergebnis die verzögerte Wachtsumskurve bei Kindern mit ADHS untermauert:
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8936912

    Ich vermute, dass es vor allem die Kinder mit der schweren Ausprägung des ADHS betrifft.

    Antwort
    • In der jetzigen Studie wurde aber eben gerade gezeigt, dass es nur eine Verzögerung und nicht ein Stillstand ist.

      Antwort
    • Annekdotischer Bericht, daher nicht von Wert, dennoch meine zwei Cent:

      Als Mädchen, die 1-2 Jahre jünger waren als ich, bereits fraulich aussahen, war mein Körperbau der eines Kindes. Dann zwei Jahre ein extremer Wachstumschub ab 13, während dem ich Kleidergrößen gewechselt habe wie andere Leute den Beutel im Staubsauger.

      Meine jüngste Schwester, die von uns drei noch am wenigsten ADS-Symptome zeigt, war mit 12 schon ziemlich groß und mit fraulichem Körperbau.

      Antwort
      • Christian Schmidt

        Sry aber das ist in vielen Familien Normal da Geschwister sich unterschiedlich schnell entwickeln villeicht sollte man um ein objektives Bild zu erhalten auch mal Studen einbeziehen ohne ADHS Hintergrund,,,,,,

      • Christian Schmidt

        Ps außerdem werden mitlerweile nachgewiesen die meisten Wachstumsschübe durch Einnahme der Pille beschleunigt.

  • Was für ein wunderbarer Artikel!! Danke!!
    Das ist genau die Analyse, die es braucht, um den immer wiederkehrenden Medien-Hype um ADHS und die bösen Pillen zu verstehen.

    Antwort
  • Unsinnstifter

    Geht halt nicht um Information und bestmögliche sachliche Näherung an ein Phänomen, sondern um Selbstreproduktion der Beteiligten.

    Wichtigmachen, Geldmachen, journalistisches Katastrophiesieren. Eigene Interessen durchdrücken. Rücksichtslos. Nicht selten hirnverbrandt mit einer erheblichen Prise Paranoia und oder Verschwörungstheorie gespickt, gegen jede Erkenntniss gefeit.

    Das zieht sich ja auch in alle möglichen Bereiche und nicht nur über ADHS / MPH. Was will man machen?

    Um so besser das Ihrer beider Artikel hier im Blog etwas Klarheit streuen.

    Besten Dank!

    Antwort

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