ADHS & GesellschaftKonstruktive ADHS-Kritik

ADHS 2027 (Teil 1/3)

Wir schreiben das Jahr 2027.

Der Anteil an Elektroautos am Privatverkehr stieg zwischenzeitlich auf satte 86 %. Die Kosten für den öffentlichen Verkehr (Bahn, Bus etc.) wurden halbiert. Roboter saugen nicht nur unsere Böden, sondern begleiten unsere Kinder auch beim Erledigen der Hausaufgaben (und anschliessend beim Spielen). Bargeld wurde abgeschafft. Kinder erhalten ab Schuleintritt eine Geld- bzw. Kreditkarte. Alte Smartphones von 2021 sind zwar vereinzelt noch im Umlauf. Und noch dominieren intelligente und rein sprachgesteuerte Armbänder, welche die Smartphones ablösten. Erfolgreiche Versuche am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lassen uns hoffen, dass wir uns in ein, zwei Jahren schmerzlos einen Mikrochip unter die Haut implantieren lassen können. Dieser wird alle Funktionen der früheren Smartphones enthalten  (und noch viel mehr können). Die Steuerung wird über Sprache und Gesten erfolgen sowie dereinst auch mental (also via Gedanken).

Der rasante technologische Wandel macht auch nicht Halt in der Entwicklung der Behandlung von Krankheiten. Begünstigt wird die rasante Entwicklung durch die Privatisierung der meisten Universitäten, welche ab 2020 einsetzte. Die Übernahme einzelner Institute durch die Pharmaindustrie setzte grosse unternehmerische Ressourcen frei. Dies vor allem auch, weil Forschung und Lehre bis heute immer noch zu 75 % vom Staat finanziert werden.

Auch hinsichtlich der Diagnostik und der Therapie von ADHS verzeichnen wir gewaltige Fortschritte. Wegbereitend war die Revision des DSM-5 im Jahr 2019, welche zu einer beeindruckenden Umsatzentwicklung von ADHS-Medikamenten führte.

Die diagnostischen Kriterien im DSM-6 entsprachen zwar weitgehend den Vorgängerversionen von 1994 und 2015. Geändert wurde im DSM-6 vor allem das diagnostische Kriterium „B“: Hiess es im DSM-IV von 1994 noch, die Erstmanifestation der ADHS-Symptome müsse “ … vor dem siebten Lebensjahr“ liegen, wurde dies 2015 (DSM-5) angepasst auf „… vor dem zwölften Lebensjahr“. 2019 schliesslich wurde im DSM-6 das Alter, vor welchem sich die ADHS-Symptome zeigen müssen erneut abgeändert. Und zwar auf das 18. Lebensjahr. Damit trug DSM-6 (endlich) dem Umstand Rechnung, was Feldforschungen und Konsensuskonferenzen schon lange anzeigten, dass nämlich das frühe Erstmanifestationsalter einfach nicht mehr den klinischen Gegebenheiten entsprach. Zu vielen ADHS-Betroffenen seien bisher wirksame Therapien vorenthalten worden, wurde reklamiert.

Mit den bereits 2010 (oder sogar früher?) erstmals beschriebenen und zwischenzeitlich hochdifferenziert erforschten ADHS-Biomarkern ist es mittlerweile mit einer Zuverlässigkeit von 99,4 % möglich geworden, bei einem Individuum festzustellen, ob eine ADHS vorliegt und um welchen Subtyp genau es sich handelt (wir kennen heute bekanntlich acht Subtypen).

ADHS-Biomarker sind messbare und für die ADHS charakteristische biologische Merkmale wie Gene, Hormone oder elektrophysiologische Werte (EEG). Damit wurde es auch möglich, zuverlässig festzustellen, welche Menschen eine genetische Disposition für eine ADHS in sich tragen. Vorbei also die alten Zeiten, als Ärztinnen und Psychologen sich noch auf wacklige aktuelle Befunde und die unsichere Anamnese abstützten mussten. Früher blieben die Patientinnen und Patienten der persönlichen Beurteilung der Fachperson ausgeliefert. Dank Biomarkern und der damit ermöglichten Diagnose des je persönlichen vorliegenden Subtyp der ADHS wurde es auch möglich, individuell massgeschneiderte medikamentöse Therapien einzusetzen. Im Gegensatz zu früher haben wir heute subjektiv unverfälschte biologische Fakten, welche uns computergestützt Diagnosen und Therapiepläne liefern. Ein grosser Fortschritt, denn die Schwachstelle Mensch konnte damit definitiv umgangen werden.

Bereits 2022 wurde aufgrund der schon lange bekannten und nachweislich hohen Erblichkeit der ADHS damit begonnen, sämtliche Geschwister von ADHS-betroffenen Kindern ab dem dritten Lebensjahr vorsorglich mit Stimulanzien behandeln. Diese präventive Behandlung mit Stimulanzien erfolgt seit einem Jahr auch dann, wenn nicht beim Kind selbst, sondern lediglich bei einem Elternteil oder bei einem Verwandten ersten Grades eine klinisch manifeste ADHS oder eine mittels Biomarkern festgestellte genetische ADHS-Disposition vorliegt.

Die präventive medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien gilt offiziell zwar immer noch als freiwillig, wurde de facto aber zur Pflicht. Und zwar weil alle bezahlbaren Krankenkassen bei klinischer Manifestation einer ADHS sonst ihre Leistungen verweigern würden. Zu teuer sind die Folgen einer nicht oder zu spät erkannten und behandelten ADHS, argumentieren die Krankenkassen.

Weil präventive Behandlung mit psychoaktiven Medikamenten bei Kindern nicht nur bei einer ADHS-Disposition, sondern seit einem Jahr auch bei positiven Biomarkern für Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie bei anderen psychischen Erkrankungen zur Anwendung kommen, entwickelte die Pharmaindustrie  – gestützt auf Biomarker  – individualisierte Kombinationspräparate. Der „personalisierten Medizin“ sei an dieser Stelle für ihr grosses Engagement herzlich gedankt.

Neu ist seit ein paar Jahren, dass diese Medikamente gleichzeitig auch Wirkstoffe gegen unerwünschte Arzneimittelwirkungen enthalten. Das hat auch die ADHS-Therapie massgeblich vereinfacht. Zudem wird in klinischen Studien bereits seit einem halben Jahr erprobt, wie sich bei Kindern implantierte ADHS-Medikamentenpumpen bewähren. Die Dosierung kann vom erwachsenen Patienten sowie von Eltern betroffener Kinder via Smartphone-App in einem gewissen Spielraum selbst gesteuert werden. Später soll im Unterricht auch eine Steuerung durch die Lehrpersonen möglich werden.

Erstaunlich wenig umstritten sind die jüngsten Bestrebungen der Krankenkassen, eine mögliche ADHS-Disposition bereits im Rahmen der Pränataldiagnostik zu erfassen. Dies liegt wahrscheinlich am grossen Engagement der seit 2019 in allen medizinischen Zentren durchgeführten humangenetischen Beratungen (obligatorisch für Schwangere). Vielen Eltern konnten die Skrupel genommen werden, nicht nur ihren Kindern mit manifesten Behinderungen, sondern auch jenen mit  potentiellen künftigen Erkrankungen durch einen Abbruch der Schwangerschaft einen lebenslangen Leidensweg zu ersparen. Widerstand gegen die pränatale ADHS-Diagnostik regt sich zurzeit einzig von einigen fundamentalistischen Uralt-68ern sowie von einzelnen Pharmaunternehmungen, welche um ihre Umsätze bangen.

Auch die psychotherapeutische Behandlung der ADHS hat gewaltige Fortschritte gemacht. Der für die Patientinnen und Patienten doch immer mühsame Besuch in der Sprechstunde des Psychotherapeuten oder der Psychiaterin entfällt heute weitgehend. Zum Einsatz kommen vielmehr automatisierte Therapieprogramme, welche die Eltern mit ihren Kindern in virtuellen „in vivo“ Therapieübungen durchführen. Kontrolliert werden sie dabei via Daten, welche in Echtzeit an die Therapeutinnen und Therapeuten übermittelt werden.

Schöne Fortschritte machte auch die apparative ADHS-Therapie. So wurde mittlerweile der therapeutische Einsatz von App-gesteuerten und teils automatisierten und adaptiven Stromimpulsgeräten zur Abgewöhnung unerwünschten Verhaltens (früher übrigens in ähnlicher Form in der Hundeerziehung eingesetzt) zum festen Bestandteil von ADHS-Therapien bei Kindern. Neu ist die Kombination mit der Freisetzung von nicht süchtig machenden euphorisierenden Medikamenten (via implantierter Medikamentenpumpe). Diese arbeitet immer dann (entweder automatisch und/oder von den Eltern oder der Lehrpersonen aktiviert), wenn das Kind die gewünschten Reaktionen zeigt (Belohnung). Musste das zu behandelnde Kind zu diesem Zweck bis 2022 noch ein 24h-Therapiearmband tragen (versehen mit einem Akku und 20 – 30 Edelstahlkontakten zur Stromimpulsübertragung), übernimmt neu ein kleines, implantiertes Gerät diese Funktionen. Für die behandelten Kinder stellt dies ein grosser Fortschritt dar, da sie sich in den meisten Fällen gar nicht mehr so bewusst sind, dass sie behandelt werden. Sie gewöhnen sich so viel schneller an den Schmerz bei unerwünschtem und das Hochgefühl bei erwünschtem Verhalten. Je früher diese Verhaltenstherapie erfolgte, umso wirksamer war sie.

Selbstverständlich haben wir auch im Jahr 2027 mit der Therapie von Menschen mit einer ADHS noch gewisse Probleme. Trotz Widerstand einzelner, um ihre Umsätze bangenden Pharmaunternehmen, wird die ADHS-Prävalenz dank der ADHS-Pränataldiagnostik und deren Auswirkungen ab der kommenden Generation auf einen kleinen Promille-Bereich zurückgehen. Es wird ein medizinhistorisch bedeutsamer Fortschritt darstellen, wenn es uns dadurch dereinst gelingen wird, die Krankheit ADHS endgültig zu besiegen. Dies rechtfertigt es allemal, von Forschungsbemühungen in Sachen ADHS-Therapie mittelfristig ganz abzusehen. Mit anderen Worten: Das Problem wird sich mittel- bis langfristig von selbst lösen.

Ungelöst ist zurzeit eigentlich nur die Frage, wie die Gesellschaft mit jenen ADHS-Betroffenen umgehen will, welche sich unter Beihilfe verhaltensauffälliger und meistens psychisch kranker Eltern allen therapeutischen Bemühungen in der Kindheit entzogen und welche sich standhaft weigern, sich vor Erreichen des 18. Lebensjahres operativ oder chemisch unterbinden zu lassen. Eine gewisse Erleichterung wird das neue Gesundheitsgesetz bringen, welches 2029 in Kraft tritt. Unter anderem verpflichtet dieses die Eltern nicht nur wie bisher, ihre kranken Kinder behandeln zu lassen, sondern neu und unter Strafandrohung auch dafür, dass diese sich vor dem Eintritt ins Erwachsenenalter unterbinden lassen.

Auch wenn 2027 noch nicht alles zum Besten steht: Die Therapie der ADHS machte Fortschritte,  von denen wir vor zehn Jahren nicht zu träumen wagten.

Hier geht es zu Teil 2.

 

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