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Genetischer Schutz gegen ADHS bei Frauen

Ehrlich gesagt frage ich mich schon, ob man nun gegen eine ADHS-Veranlagung geschützt sein sollte oder sein kann. Und ich frage mich auch, ob man bei der vorgestellten Untersuchung eines produktiven = schützenden Effekts des weiblichen Geschlechts nun wirklich die Fragestellung so angegangen ist, wie man es machen sollte.

Aber immerhin kann und muss man vielleicht sich überlegen, warum mehr Jungs als Mädchen die Diagnose ADHS erhalten.

Da man von einer extrem hohen genetischen Veranlagung nach den Zwillingsstudien ausgeht, stellt sich dann die Frage, ob es nun eine unterschiedliche Penetranz bzw. eine x-chromosomale Abhängigkeit gibt. Bzw. ob ggf. die Gene einen unterschiedlichen Einfluss im Sinne einer Wirkstärke haben könnten.

Ich selber gehe eigentlich nicht davon aus, dass ADS / ADHS nun bei Mädchen seltener als bei Jungs vorkommt (Achtung : Einzelne Meinung von mir). Ich gehe eher davon aus, dass die aktuellen Definitionen von ADHS bzw. des Hyperkinetischen Syndroms die ADHS-Ausprägung bei Mädchen überhaupt nicht erfassen. Zumindest nicht im Kindesalter.

Anders gesagt : Wenn ich nach den Fragebögen bzw. Definitionen des DSM-V bzw. noch stärker ICD 10 ausgehe (was wir ja letztlich tun müssen), wird man die für mich eher charakteristischen Besonderheiten wie

Entwicklungsverzögerung um 30 Prozent
Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche
Besonderheiten der höheren Handlungsfunktionen
Störung der Aufmerksamkeitssteuerung

bei Mädchen schlicht nicht so früh erkennen. Einerseits, weil sie offenbar sich häufig besser an dieses Störungen adaptieren können und es dann erst mit zunehmenden Anforderungen an Selbstständigkeit bzw. eigener Verantwortung zu Problemen kommt. Andererseits aber auch, weil sie wahrscheinlich von anderen (später auftretenden) Begleitstörungen betroffen sein könnten. So wird ein Junge mit einem ausgeprägten oppositionellem Trotzverhalten bzw. sogar einer Störung des Sozialverhaltens vermutlich weit stärker auffallen, als ein Mädchen mit einer Dyskalkulie oder aber einer Generalisierten Angststörung und anderen Internalisierungsstörungen.

Aber egal. Wichtig und richtig ist ja, dass man sich mehr und überhaupt mit den geschlechtsspezifischen Faktoren und Einflüssen bei ADHS und anderen Entwicklungsstörungen beschäftigt.

Mehr zum Artikel 

Wie interpretiert IHR die unterschiedliche Häufigkeit bzw. Ausprägung von ADHS bei Jungs und Mädchen (bzw. dann Männern und Frauen) ?

8 Gedanken zu „Genetischer Schutz gegen ADHS bei Frauen

  • Bei uns in der Familie liegt die ADHS ganz in Frauenhand:
    Grossmutter, Mutter, Tochter und deren Schwestern und dann noch die eigene Tochter.
    Leider wurden auch bei uns zuerst Depressionen, Borderline und Angststörungen diagnostiziert ehe jemand auf ADHS kam. Was war zuerst: Huhn oder Ei? Ich nehme nach intensiven Jahren der Reflexion an, dass zuerst eine ADHS vorlag und dann einzelne Kormobiditäten dazukamen, die sich individuell mehr oder weniger stark bei jeder von uns zeigten.

    Antwort
  • Hallo,

    ich sehe zwei Punkte, warum AD(H)S vorwiegend bei Jungen/Männern diagnostiziert wird.

    Zum einen sind Männer ein (ganz klein) wenig extrovertierter als Frauen. Auch wenn die Schwankungsbreite innerhalb der Männer und innerhalb der Frauen deutlich grösser ist als der Unterschied zwischen Männern und Frauen als jeweilige Gesamtheit, sind Männer in der Summe eben etwas extrovertierter. Mit Extraversion korreliert, dass Stress eher nach außen ausgelebt wird – bei Introversion eher nach innen.
    Menschen, die ihren Stress nach außen ausleben, fallen anderen wesentlich unangenehmer auf.
    Und AD(H)S ist für mich eine Stressregulationsstörung. (Nur falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte ;-)). Auch ohne (adäquaten) Anlass wird Stress intensiv erlebt (und folglich ausgelebt).

    Zum zweiten haben AD(H)S und (unter anderem) etliche Aggressionsstörungen die selbe Ursache; eine hohe Stressbelastung in der frühen Kindheit plus eine (jeweils spezifische) genetische Disposition die durch die Stressbelastung epigenetisch aktiviert wird.
    Diese selbe Ursache ist der Grund für die vielen Komorbiditäten. Welche Störungen man als Betroffener so sammelt, hängt davon ab, welche Karten man so in der Hand hat / Genverianten im Leib trägt.
    Bei den komorbiden Aggressionsstörungen werden einige durch eine spezifische genetische Disposition des MAO-A-Gens verursacht, welches auf dem X-Chromosom liegt, weshalb ausschliesslich Jungen und Männer davon betroffen sind.
    Ich halte diese Aggressionsstörungen ((oppositionelle) Verhaltensstörung / antisoziale Verhaltensstörung) für eine eigenständige Komorbidität, die eben zusammen mit AD(H)S auftreten können. Und auch bei diesen gibt es eine Stärkeschwankung von ein klein bisschen bis extrem.
    Da derartige aggressive Verhaltensstörungen häufiger diagnostiziert werden als die angenehmen introvertierten (und wenn, erhalten die allenfalls die bequeme Diagnose Depression oder Angststörung) wird AD(H)S eben bei männlichen Exemplaren des homo sapiens häufiger diagnostiziert,

    Viele Grüsse

    Ulrich

    Antwort
  • Ich vermute., dass viele Mädchen fehldiagnostiziert sind ( zB Borderline) oder nur die Komorbiditäten wie Depressionen behandelt werden.
    Wie in vielen Diagnose -Katalogen sind die Wissenschaftler von einem MusterMANN ausgegangen, wenn sie die Symptome beschrieben haben. Das ist sogar bei Herzerkrankungen so. So manche Frau hätte NICHT an ihrem Herzinfarkt sterben müssen, wäre das schon länger bekannt .
    Erst in den letzten Jahren erkennt und akzeptiert man mehr und mehr, dass Frauen/Mädchen und Männer /Jungen oftmals nicht die gleiche Symptomatik vorweisen. Wenn man mal wieder am DSM oder ICD rummacht, sollte man da mal mehr Hirn einsetzen ( Gender-Blick).
    In meiner Bekanntschaft sind so viele ADHSlerinnen (und Autistinnen), dass ich das überhaupt nicht nachvollziehen kann. Allerdings alle über ( oft leidvolle ) Umwege zur Diagnose gekommen.
    Von meiner Familie fange ich gar nicht erst an …. Da gibt es wohl sowas wie ein weibliches ADHS /Autismus Kreativitäts-Gen 😀

    Antwort
      • Sowas ist immer lustig, da es ja die Tippfehlerkorrektur so macht 🙂 Ich schau aber mal. Danke !

  • Bei 47,XXY schätzt man die Häufigkeit von AD(H)S auf 60-80 %, wobei ADS überwiegt. Das X-Chromosom wäre hier nicht protektiv, eher noch gegen ADHS als ADS.

    Antwort
  • Ich kann mir vorstellen, dass es bei den betroffenen Mädchen mehr „Träumerchen“ gibt. Die fallen weniger aus dem Rahmen.
    Unser Sohn ist auch so einer. Er bekam die Diagnose erst mit 16, als er wegen einer Depression behandelt wurde. Seine Symptome passten nie auf gängige ADHS Kriterien.

    Antwort
  • Birgit Boekhoff

    Hallo Herr Winkler,
    meiner Beobachtung nach gibt es deutlich weniger Mädchen mit AD(H)S, die expansives Verhalten zeigen. Das fällt dann natürlich weniger auf und ist weniger störend IM VERGLEICH zu den hyperaktiven Jungs. Ob es aber tatsächlich weniger Mädchen mit dieser Grundkonstitution gibt, das ist eine berechtigte Frage. Hier bin ich mir auch nicht ganz schlüssig, es wäre aber interessant, mit überarbeiteten Diagnosekriterien, die auch die schwerpunktmäßig unaufmerksamen ADHSler erfassen, noch einmal zu schauen.

    Unser ICD 10 ist ja schon eher auf die Erfassung von ADHSlern ausgerichtet, die AUCH impulsiv-hyperaktiv sind.
    Wissen Sie, wie es in Ländern ist, die den DSM-VI verwenden, in dem es ja noch Subtypen gibt?

    Im Erwachsenenalter kann ich diese Häufigkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen zumindest in der Praxis nicht feststellen. Hier ist mein Eindruck, dass es tatsächlich ca. 1:1 ist.
    Wobei man in der Praxis natürlich auch nicht alle zu sehen bekommt.

    Antwort

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