Allgemein

ADHS und Zwangsstörung

ADHS und Kontroll-Zwang

Früher Beginn von Zwängen und Auftreten von Begleitstörungen sollten an ADS / ADHS denken lassen

Neulich war ich im Büro der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. in Hamburg und habe das tolle (kleine) Team dort kennengelernt. Und wie es so sich ergab, es ging eigentlich um ADHS und wir durften den dortigen Raum nutzen.

In über 35 Studien wurde belegt, dass jedes 5. Kind mit Zwangsstörungen auch eine ADHS-Symptomatik aufweist. Und immerhin jeder 12. Erwachsene (8,5 %) der Erwachsenen mit einer Zwangsstörung-Diagnose weist eine ADHS auf.

Ich tippe mal darauf, dass es hier eine erhebliche Dunkelziffer gibt. Immerhin sehen die meisten Psychiater ADHS eher als eine Externalisierungsstörung auf, d.h. Unruhe, Hyperaktivität und Impulsivität werden als Merkmale angesehen.
Klienten mit Zwängen sieht man eher im Bereich der „Internalisierung“, d.h. eine eher nach innen gerichteten Symptomatik.

Das ist aber eben auch schon ein Vorurteil, da es natürlich ebenso Internalisierungsbesonderheiten bei ADHS gibt. Und vermutlich auch Zwangspatienten, die eher extrovertiert sind.


Und sehr häufig wird eben fälschlicherweise bei scheinbaren Zwangsgedanken bzw. Kontrollhandlungen nicht an das Vorliegen von ADHS gedacht. Was Kontrollzwänge eigentlich sind, wird in diesem Video schön erklärt. Wenn man die „Paddeligkeit“ von ADHSlern kennt, kann man dann schon ins Zweifeln kommen, ob nicht bei ADHS das ständige Gefühl von Zweifeln und Unsicherheit nicht einem „realen“ Hintergrund haben könnte. Das ist der wesentliche Unterschied zu Zwängen. Auch die eigentliche „Gewissheit“, dass alles in Ordnung ist, hilft nicht die Kontrollzwänge und -handlungen zu beenden.



Diese Woche ist bei mir in der Klinik mal wieder Neurodiversität in allen Facetten zu finden. Oder anders ausgedrückt : Patientinnen mit einer sehr hohen Sensitivität und Sensibilität bzw. einer seit der frühesten Kindheit bestehenden Reizoffenheit. Aber eben auch mit einem Spektrum von Symptomen bzw. auch Diagnosen, die letztlich vom ersten Lebensjahr bestanden bzw. auch durch verschiedenste psychotherapeutische, psychosoziale und medikamentöse Therapien nicht besser (höchstens anders) wurden.

Und dann u.a. zu ständigen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen führte. Sowas ist ja gar nicht selten. Ungewöhnlich ist aber, dass dies dann auch unter verschiedensten medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsversuchen nicht besser wurde. Sondern eher eine Zunahme der Symptome bzw. Zwangshandlungen auftritt.

Eigentlich kann man unter einer Medikation mit einem SSRI (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) ja bei vielen (gerade schwer betroffenen) Patientinnen mit Zwängen, häufig eine Linderung erreichen. Bei ADHSlern tritt dieser Effekt nicht (oder eher selten) auf.

Erwachsene mit Zwangsstörungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS oder ADS bzw. vermutlich auch SCT = Sluggish cognitive Tempo) weisen einzigartige Symptome auf, die sie zu einer wichtigen Untergruppe von Zwangsstörung-Patienten machen, so eine Studie, die in Depression and Anxiety von Forschern der Abteilung für Psychiatrie der Federal University of São Paulo, Brasilien, veröffentlicht wurde.

Nach Daten, die von 955 Erwachsenen mit Zwangsstörung aus dem brasilianischen Forschungskonsortium gesammelt wurden, erlebten Patienten mit komorbider ADHS einen früheren Beginn und schwerwiegendere Symptome einer Zwangsstörung.

13,7 Prozent der untersuchten Gruppen hatten eine Komorbidität von ADHS und Zwängen. Klinisch zeichneten sie sich gegenüber anderen Patienten und Patientinnen aus dem Bereich Zwangserkrankungen u.a. dadurch aus, dass sie :

  • jünger waren
  • hatte einen früheren Ausbruch von Zwangs-Symptomen
  • hatte ein erhöhtes Risiko für akademische Beeinträchtigungen
  • eine höhere Anzahl von Begleitstörungen hatte
  • hatte eine erhöhte Rate des Tourette-Syndroms
  • Häufiger und schwere Angst- und Depressionsstörungen
  • mehr Selbstmordversuche
  • eine höhere Symptombelastung in den Fragebögen zu Zwangsstörungen
  • mehr sensorische Begleitstörungen im Sinne von Reizüberflutung

Autismus-Spektrum und Zwänge

Nach meiner sehr subjektiven Beobachtung sind Zwänge noch häufiger bei Klienten zu finden, die eher zusätzlich in das Autismus-Spektrum tendieren. Aber gerade weil die Schnittmengen so groß sind und es nicht ein „Entweder-Oder“ sondern eher ein „Sowohl-als-Auch“ ist, sollte man gerade bei sehr frühem Beginn von psychischen Beeinträchtigungen bzw. Entwicklungsbesonderheiten und Zwängen an das Vorliegen von neuropsychologischen Entwicklungsstörungen wie ADHS und Autismus denken.

8 Gedanken zu „ADHS und Zwangsstörung

  • Eine Betroffene

    Hallo Herr Dr. Winkler,
    durch Internetrecherche bin ich auf ihren Artikel gestoßen und kann Ihre Annahme zur Medikationswirksamkeit beim Vorliegen von ADHS/ADS und einer Zwangssymptomatik persönlich nicht bestätigen.

    Auch ich bin von beiden Diagnosen betroffen. Das Antidepressivum half mir jedes Mal bis zum vollständigen Verschwinden der Zwangssymptomatik (Zwangsgedanken). Anzumerken ist hierbei nur, dass bis zum Einsetzen der Wirkung sehr viel Geduld gefordert ist (bis zu 12 Wochen). Außerdem ist, wie bei einer Zwangssymptomatik allgemein empfohlen wird, eine Recht hohe Dosierung des SSRI notwendig.
    Ich möchte hiermit also allen Betroffenen und Angehörigen Mut machen.
    Hilfesuchende könnten durch ihren Artikel erheblich verunsichert werden.
    Welche Fakten belegen Ihrer Meinung nach denn die Nichtwirksamkeit genau?

    Antwort
    • So ist mein Artikel nicht zu verstehen. Ich bin nicht negativ gegenüber der Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen. Ich habe nur darauf verwiesen, dass bei Nicht-Ansprechen auf übliche Verhaltenstherapie / SSRI-Behandlung eben auch an das Vorliegen von ADHS als eine Grundlage für die Zwangsstörung gedacht werden sollte. Und ADHS wird eben nicht über Antidepressiva besser.

      Antwort
      • Eine Betroffene

        Ok. Meine ADS-Diagnose erhielt ich erst Anfang diesen Jahres und konnte in den Jahren davor jedes Mal von einer SSRI-Einnahme profitieren.
        Was natürlich für ein frühzeitiges genaueres Hinschauen und damit dem Aufdecken einer möglichen Komorbidität wie Ad(H)S spricht, ist dass der Stresslevel durch eine Medikamentengabe gegen die AD(H)S-Symptomatik stark sinkt und somit Krisen, die eine akute Zwangssymptomatik auslösen würden gar nicht mehr so leicht entstehen können.

  • Sanela Jashari

    Liebe Frau Dr. Winkler, mein Sohn 12J. hat genau diese Kombination die ihm das Leben sehr schwierig macht. Momantan bekommt er SSRI und in späterer Folge eventuell Ritalin. Finden Sie persönlich diese Medikation geeignet? Außerdem haben einige seiner Lehrer kein Verständnis für sein oftmals schwieriges Verhalten, hätten Sie eventuell einen Tipp für mich wie ich damit am besten umgehen kann? Liebe Grüße

    Antwort
    • Leider kann und darf ich da online keine Beratung oder Meinung abgeben, zumal ich eben Erwachsenenpsychiater und kein Kinderpsychiater bin.

      Antwort
  • Sg Herr Dr Winkler. Wenn Serotonine nicht helfen, was hilft dann bei ADHS mit Zwängen. In erster Linie sollten die Zwänge verschwinden, damit das (Schul)Leben wieder halbwegs normal verlaufen kann. Gibt es da Erkenntnisse? MfG

    Antwort
  • Guten Tag Herr Dr. Winkler,
    zu diesem intetessanten Thema habe ich eine Frage. ADHS und Zwänge scheinen ja gehäuft parallel aufzutreten was man ja häufig liest. Ich meine mich aber an einen Bericht von Ihnen zu erinnern in dem Sie sagten „ich habe noch nie jmd. gesehen der beide Diagnosen hat“. Können Sie das bestätigen bzw. bezog sich das eher auf die biologische Grunderkrankung? Aber es gibt doch auch Theorien die ähnliche Veränderungen im Kopf behaupten?
    Freundlicher Gruß

    Antwort
    • Wenn ich das behauptet habe, dann entschuldige ich mich. Ich finde es schon wichtig, erstmal sauber Diagnosen auseinander zu halten. Ganz früher habe ich geglaubt, dass Zwang und ADHS neurobiologisch quasi das Gegenteil darstellt. Also mehr oder weniger unvereinbar sind. Das sehe ich heute aber nicht mehr so…

      Antwort

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