ADHS / Autismus und chronischer Schmerz

Es gibt Fakten bzw. nicht bekannte und nicht unbesetzte Erkenntnisse, die kann man gar nicht genug wiederholen…

Der Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzsyndromen und Neurodiversität = einer speziellen, angeborenen Disposition für ADHS, sluggish cognitive tempo, Autismus-Spektrum oder anderen Emotionalen Regulationsstörungen ist eigentlich bekannt. Wenn man aus der Sicht ADHS schaut. Aber selbst da wird nicht wirklich verstanden, wie enorm wichtig das rechtzeitige Erkennen und eine BEHANDLUNG in Hinblick auf die Vermeidung (Prophylaxe) bzw. Therapie chronischer Schmerzen ist.

Merkwürdigerweise wird bisher noch weniger aus dem Blickwinkel der Schmerzforschung oder Therapie (z.B. bei Fibromyalgie, chronischer Kopfschmerz, unklare Bauchschmerzen), die fast immer ihren Beginn schon im frühen Kindes- oder Jugendalter haben.

Dabei sollte klar sein : JEDE Patientin und JEDER Patient mit chronischen Schmerzen, die im Kindes- und Jugendalter anfingen (bzw. wo es emotionale Regulationsprobleme mit Beginn im Kindesalter gab) sollte / MUSS von einem ADHS- / Autismusspektrum- Experten GESEHEN und ausführlich untersucht werden. Und dann in aller Regel auch therapiert werden.

Aktuell habe ich wieder Patienten (in der unten zitierten Studie sind es nur Frauen), die eher wegen unklarer, aber diffus und dann einschiessend auftretender Schmerzen in der Klinik sind.

Einer bezeichnete sich selber in der Aufnahme als Speedy Gonzales. Die Schmerzattacken bzw. ein sich diffus ausbreitender Schmerz verhindert jetzt aber, dass “Speedy” eben die geistige Wahnsinnsgeschwindigkeit auch weiter durchhalten kann. Langeweile, Ruhe, Kritik oder auch nur Ungerechtigkeit verstärken aber die Schmerzen. Logo, dass aus seiner Sicht dann Ruhe und Entspannung keine einleuchtende Therapieempfehlung wären.

ADHS bzw. ein neurodiverses Gehirn bedeutet u.a., dass eine besondere Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche besteht. Man(n) und Frau mit dieser Disposition nimmt also mehr als andere wahr. Besonders aber alles, was mit negativen Dingen, speziell hier Spannungen und – aus der eigenen Biographie erklärbar – aversive = extrem negative, weil scham- oder angstbesetzte Gefühle verbunden ist. Häufig genug wirkt die Sensitivität dann wie eine Art Alarmierung. Die Personen in der Umgebung triggern hier nicht nur frühere negative Erfahrungen. Sie sollten eigentlich WARNEN, weil diese Personen häufig genug real unangenehm, grenzüberschreitend und verletztend SIND.

Die Probleme im Bereich der höheren Handlungsfunktionen machen es halt unglaublich schwer, den Alltag zu bewältigen. Mit Schmerzen und Fatigue noch viel schwerer. Und noch dazu, wenn eben (wie fast immer) in der Familie weitere Familienmitglieder mit einer ADHS-/Autismus-Diagnose versammelt sind. Wo dann (in aller Regel eben die Mama) auch noch für die anderen Mithandeln, Mitorganisieren, Mitfühlen soll.

Typisch für viele Schmerzpatientinnen ist aus meiner Erfahrung eben, dass es die Kombination von Emotionaler Dysregulation, Reizoffenheit und Problemen der höheren Handlungsfunktionen seit der Kindheit GIBT. Und typisch ist ebenso, dass sich daraus eine Art lebenslange Posttraumatische Belastungsstörung ergibt (die wir dann häufig somatoforme Schmerzstörung nennen, weil es keine typischen Traumata sind).

Was sagt die Studie jetzt ?
“A large majority of the women (76.6%) reported chronic pain. HRQoL was low overall and lower still for those reporting chronic pain. Women with ADHD who had ongoing treatment with stimulants reported a significant lower prevalence of chronic widespread pain (CWP) than those not treated.”

76,6 Prozent !!!!!! Also 3/4 aller untersuchten Frauen weisen eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und chronische Schmerzen auf, wenn sie eine (in der Kindheit diagnostizierte ADHS bzw. Autismus-Spektrum-Disposition) haben.

UND : Die Behandlung mit Stimulanzien wirkt ! Sie wirkt nicht nur auf die ADHS-Grundsymptomatik. Sie wirkt auch hinsichtlich der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung.

Hierzu könnte ich selber mehrere – eigentlich tägliche – Fallvignetten beitragen. Wo dann 30 bzw. 50 mg Lisdexamphetamin zu einer radikalen (wirklich dramatischen) Veränderung der eigenen Schmerzwahrnehmung führte.

Nicht immer sofort zu einer Abnahme der Schmerzen. Aber die Schmerzart verändert sich von “Diffus und überall ausbreitend” hin zu einer selektiven, häufig auch örtlich begrenzteren Form, die eine “Alarmierungs-Funktion” hat.

Diese Alarm-Funktion muss man dann verstehen (bzw. häufig auch durch begleitende Sport- und Physiotherapie die Faszienverklebungen, Fehlhaltungen etc it behandeln).

Stimulanzien sind nach meiner Erfahrung der Schlüssel im Sinne eines Türöffners für die Schmerztherapie.

Mit dem Beginn der Medikation werden die Schmerzen “echter”. Die ADHS-Behandlung ist dann der Einstieg in reale Veränderungsmöglichkeiten.

Häufig genug muss Frau / Mann dann erst lernen, mit der besonderen Vulnerabilität für Verletzungen durch die neurotypischen “Monster” umzugehen. Auf eigene Grenzen achten. Selbstfürsorge.

Aber eben auch : Die lebenslangen Narben aus emotionaler Gewalt (Gaslightning), aber auch Scham über die angebliche eigene Unzulänglichkeit und ständigen Probleme im Alltag, Beziehung und Beruf sorgsam behandeln lassen.

Es tut mir heute fast körperlich weh, dass dieses Thema nicht überall beachtet wird. Wieviele Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden vermutlich tagtäglich nicht oder falsch (mit irrsinnigen Dosen von Neuroleptika und Opiaten) behandelt, nur weil irgenwelche Ärzte oder Psychologen sich weigern, die Existenz von ADHS / Autismus zu berücksichtigen ?

Musste mal (wieder) geschrieben werden.

Und jetzt zur englischsprachigen Quelle meiner Entrüstung

Quelle :

J Pain Res. 2019 Oct 18;12:2925-2932. doi: 10.2147/JPR.S212422.

Chronic Pain And Health-Related Quality Of Life In Women With Autism And/Or ADHD: A Prospective Longitudinal Study.

Asztély K1Kopp S2Gillberg C2Waern M3Bergman S1.

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31695481

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