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Essstörungen und ADHS: Eine komplexe Verbindung


Einleitung: Essstörungen und ADHS sind zwei komplexe Erkrankungen, die oft gemeinsam auftreten. Das ist ein Thema, das mich klinisch sehr lange beschäftigte, da ich auf verschiedenen Schwerpunkten sowohl im Bereich der Kinder- und Jugendpsychosomatik wie auch in Fachkliniken mit Essstörungen damit konfrontiert wurde. Leider ignorieren bzw. ignorierten gerade Kinderärzte bzw. Kinder- und Jugendpsychiater aber merkwürdigerweise mögliche (bi-direktionale) Zusammenhänge. Die „braven“ Mädchen mit einer Essstörungen passen zunächst erstmal so gar nicht in das Stereotyp ADHS. Vergessen bzw. nicht beachtet wird dann aber, dass ADHS und auch Autismus-Spektrum häufig maskiert beteiligt sind bzw. eben dysfunktional die Essstörung dann eine Art Kontrolle bzw. Spannungsregulation für die eigentlich zugrundliegende Problematik sein kann.

Eine neue Metaanalyse hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS ein erhöhtes Risiko für Essstörungen haben, insbesondere für Binge-Eating-Störungen. Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Zusammenhänge zwischen neurologischen Prozessen, psychodynamischen Faktoren und genetischen Störungen. In diesem Artikel werden wir uns genauer mit der Verbindung zwischen Essstörungen und ADHS befassen und die möglichen Ursachen und Auswirkungen dieser komplexen Beziehung untersuchen.

Die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen

Die neuropsychologischen Zusammenhänge zwischen ADHS und Essstörungen sind vielfältig und komplex. Die Metaanalyse, die in dieser Studie durchgeführt wurde, untersuchte den Zusammenhang zwischen ADHS und Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Von den sieben analysierten Studien zeigten fünf eine eindeutige Assoziation zwischen den beiden Erkrankungen.

Besonders signifikant war der Zusammenhang zwischen ADHS und Binge-Eating-Störungen. Insgesamt hatten 31 % der Patienten mit einer Binge-Eating-Störung auch die Diagnose ADHS. Nach meiner persönlichen Erfahrung wird die Diagnose Binge-Eating-Störung spät (ja viel zu spät) erst im Zusammenhang mit Adipositas per magna gestellt. Dann wird aber praktisch nie an das Vorliegen einer ADHS-Konstitution gedacht. Mit fatalen Folgen der Nichtbeachtung

Bei der Bulimie war das Risiko für ADHS ebenfalls erhöht, wobei 19,23 % der Patienten mit Bulimie zusätzlich die Diagnose ADHS erhielten. Bei der Anorexie war die Assoziation mit ADHS hingegen geringer, da nur 9,38 % der betroffenen Kinder auch ADHS hatten. (9,38 % ist aber immer noch eine signifikante Größe!, nach meiner Erfahrung sollte auch unbedingt mit abgefragt werden ob ein Bruder oder weitere Familienangehörige möglicherweise ADHS bzw. Störungen des Sozialverhaltens aufweisen)

Diese Ergebnisse bestätigen die klinische Erfahrung und weisen auf eine starke Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen hin. Kinder mit auffälligem Essverhalten entwickeln häufig im Jugend- und Erwachsenenalter eine Essstörung. Es wird vermutet, dass gemeinsame genetische und neurobiologische Störungen dafür verantwortlich sein könnten.

Die erhöhte Prävalenz von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Zum einen gibt es neurologische Prozesse, die das Belohnungssystem und die Impulskontrolle beeinflussen und somit zu gestörtem Essverhalten führen können. Zum anderen kann die „Flucht ins Essen“ oder aber die Kontrolle durch Nicht-Essen über die eigenen Gefühle eine Bewältigungsstrategie sein, um mit den Herausforderungen und Frustrationen im Zusammenhang mit ADHS umzugehen.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen nicht nur in eine Richtung geht. Es gibt eine bidirektionale Beziehung, bei der Essstörungen das Risiko für ADHS erhöhen und umgekehrt. Daher wird empfohlen, dass bei Patienten mit einer Essstörung auch eine mögliche ADHS in Betracht gezogen wird und umgekehrt. Das heisst jetzt natürlich nicht, dass eine Essstörung ADHS verursacht, sondern dass man eigentlich bei jedem Klienten oder Klientin mit einer Essstörung auch eine ADHS-Diagnostik bzw auch Screening für Autismus-Spektrum-Besonderheiten machen sollte (und die restliche Familie da auch mit einbeziehen sollte)

Die Erkenntnisse aus dieser Metaanalyse tragen dazu bei, das Verständnis für die komplexe Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen zu vertiefen. Es wird deutlich, dass eine ganzheitliche Herangehensweise an Diagnose und Behandlung notwendig ist, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen angemessene Unterstützung bieten zu können.

Ursachen für die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen

Die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen. Sowohl neurologische als auch psychologische Faktoren spielen dabei eine Rolle. Und das natürlich in einer ständigen Wechselwirkung.

Auf neurologischer Ebene gibt es Störungen im Dopaminstoffwechsel, die das Belohnungssystem beeinflussen und die Impulskontrolle beeinträchtigen können. Dies kann zu einem gestörten Essverhalten führen, bei dem das Bedürfnis nach sofortiger Belohnung im Vordergrund steht. Kinder und Jugendliche mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse aufzuschieben und impulsives Verhalten zu kontrollieren. Dies kann zu unkontrolliertem Essverhalten und einer gestörten Körperwahrnehmung mit fehlendem Sättigungsgefühl führen.

Ein weiterer möglicher Faktor ist ein Melanocortin-4-Rezeptor-Defekt, der zu einer Hyperphagie und Insulinresistenz führt. Dieser genetische Defekt kann sowohl mit ADHS als auch mit Essstörungen in Verbindung gebracht werden.

Darüber hinaus können psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Kinder und Jugendliche mit ADHS erleben oft soziale Misserfolge und können sich als Außenseiter fühlen. Dies kann zu emotionalen Belastungen führen, die wiederum zu einer „Flucht ins Essen“ als Bewältigungsstrategie führen können. Der Konsum von Nahrungsmitteln, die stimmungsaufhellende Wirkungen haben, wie zum Beispiel Schokolade oder zuckerhaltige Produkte, kann vorübergehendes Glücksgefühl und Trost bieten.

Darüber hinaus können Misserfolge und Schwierigkeiten, die aufgrund der ADHS-Symptome auftreten, ebenfalls zu einer verstärkten emotionalen Belastung führen und das Risiko für Essstörungen erhöhen.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Ursachen für die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen individuell unterschiedlich sein können. Nicht jeder betroffene Patient weist die gleichen Ursachen auf. Vielmehr handelt es sich um eine komplexe Wechselwirkung zwischen genetischen, neurologischen und psychologischen Faktoren.

Ein besseres Verständnis dieser Ursachen kann dazu beitragen, angemessene Behandlungsansätze zu entwickeln, die sowohl die ADHS-Symptome als auch die Essstörungen berücksichtigen. Eine ganzheitliche Herangehensweise, die sowohl medizinische als auch psychologische Interventionen umfasst, ist wichtig, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen effektiv zu helfen.

Auswirkungen der Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen

Die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit können beeinträchtigt sein.

Auf körperlicher Ebene kann unkontrolliertes Essverhalten zu Gewichtszunahme und Adipositas führen. Kinder und Jugendliche mit ADHS sind überdurchschnittlich häufig von Adipositas betroffen, was wiederum das Risiko für verschiedene Begleiterkrankungen wie Diabetes, Herzerkrankungen und orthopädische Probleme erhöht.

Psychisch kann die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen zu einer Verschlechterung des Selbstwertgefühls und der psychischen Belastung führen. Betroffene Kinder und Jugendliche können unter starken emotionalen Schwankungen, Schuldgefühlen und einem gestörten Körperbild leiden. Die Essstörungen können auch soziale Isolation und Probleme in der Schule oder im sozialen Umfeld verursachen.

Es ist wichtig anzumerken, dass die Auswirkungen von ADHS und Essstörungen individuell unterschiedlich sein können. Nicht alle betroffenen Personen zeigen die gleichen Symptome oder erleben die gleichen Schweregrade der Beeinträchtigung. Dennoch ist es entscheidend, die Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit zu erkennen und angemessene Unterstützung bereitzustellen.

Eine frühzeitige Erkennung und Diagnosestellung sind entscheidend, um eine rechtzeitige Behandlung einzuleiten. Ein multidisziplinärer Ansatz, der Fachleute aus den Bereichen Pädiatrie, Psychiatrie, Ernährung und Psychotherapie umfasst, kann dazu beitragen, die Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen ganzheitlich zu erfassen und individuelle Behandlungspläne zu entwickeln.

Die Behandlung sollte sowohl die ADHS-Symptome als auch die Essstörungen berücksichtigen. Dies kann eine Kombination aus medikamentöser Therapie, Verhaltenstherapie, Ernährungsberatung und Familienunterstützung umfassen. Ein integrativer Ansatz, der auch die Unterstützung des sozialen Umfelds einbezieht, ist von großer Bedeutung.

Es ist wichtig, dass betroffene Kinder und Jugendliche eine umfassende Unterstützung erhalten, um ihre körperliche und psychische Gesundheit wiederherzustellen. Die Sensibilisierung für die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen sowie die Bereitstellung angemessener Ressourcen und Behandlungsoptionen sind entscheidend, um diesen Kindern und Jugendlichen eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen.

Patientenbeispiel: Mädchen mit Bulimie und ADHS

Um die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen zu verdeutlichen, möchte ich ein Patientenbeispiel vorstellen. Betrachten wir das Fallbeispiel von Lisa, einem 15-jährigen Mädchen, das sowohl unter Bulimie als auch unter ADHS leidet.

Lisa wurde erstmals im Alter von 12 Jahren mit ADHS diagnostiziert, zunächst aber nur psychotherapeutisch und mit Ergotherapie betreut. Sie zeigte typische Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität, daneben Hinweise auf eine starke innere Anspannung und Unruhe. Ihre Schulnoten waren zunächst hervorragend. Ihre „Launigkeit“ bzw. emotionale Probleme ihre Gefühle einzuordnen bzw. zu steuern wurden auf ihre Pubertät zurückgeführt.

Im Alter von 14 Jahren entwickelte Lisa Symptome einer Essstörung. Sie begann, heimlich große Mengen an Lebensmitteln zu essen und fühlte sich danach von Schuldgefühlen und Scham überwältigt. Anschließend versuchte sie, das Essen durch selbstinduziertes Erbrechen loszuwerden. Dieses Muster wiederholte sich regelmäßig, und Lisa geriet in einen Teufelskreis aus Essanfällen und Erbrechen.

Die Verbindung zwischen ihrer Essstörung und ADHS wurde deutlich, als Lisa begann, ihre Essanfälle als Bewältigungsmechanismus für ihre emotionalen Schwierigkeiten zu nutzen. Die Essanfälle ermöglichten es ihr vorübergehend, sich von ihren ADHS-Symptomen und den damit verbundenen Herausforderungen abzulenken. Gleichzeitig verstärkte das Essverhalten jedoch ihre negativen Emotionen und führte zu einem starken Verlust an Selbstwertgefühl.

Lisa und ihre Familie wurden an ein multidisziplinäres Team aus einem ADHS-fachkundigem Pädiater, Psychologen und Ernährungsexperten überwiesen. Gemeinsam entwickelten sie einen individuellen Behandlungsplan, der sowohl die ADHS-Symptome als auch die Essstörung berücksichtigte. Lisa erhielt eine Kombination aus Medikamenten zur Kontrolle ihrer ADHS-Symptome, verhaltenstherapeutischer Unterstützung zur Bewältigung von Stress und Emotionen sowie Ernährungsberatung, um ein gesundes Essverhalten zu fördern.

Im Laufe der Behandlung zeigte Lisa eine Verbesserung ihrer Symptome. Sie lernte alternative Bewältigungsstrategien, um mit ihren Emotionen umzugehen, und entwickelte ein besseres Verständnis für gesunde Essgewohnheiten. Ihr Selbstwertgefühl stärkte sich allmählich, und sie konnte die Kontrolle über ihr Essverhalten zurückerlangen.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen das Leben von betroffenen Personen beeinflussen kann. Es zeigt auch, wie eine umfassende Behandlung, die die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt, dazu beitragen kann, die körperliche und psychische Gesundheit wiederherzustellen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen.


Fazit zu ADHS und Essstörungen


Die Metaanalyse bestätigt die Verbindung zwischen ADHS und Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine umfassende Betrachtung der neurologischen, psychodynamischen und genetischen Faktoren notwendig ist, um das komplexe Zusammenspiel zwischen diesen beiden Erkrankungen zu verstehen. Die Identifizierung von ADHS bei Patienten mit Essstörungen und umgekehrt kann eine verbesserte Behandlung und bessere langfristige Ergebnisse ermöglichen.

Quelle : Villa FM et al. ADHD and eating disorders in childhood and adolescence. J Affect Disord. 2023;321:265-71

Essstörungen und ADHS bedingen sich oft gegenseitig. Dr. med. Kirsten StollhoffErschienen in: Pädiatrie Ausgabe 3/2023


Keywords: ADHS, Essstörungen, Binge-Eating-Störung, Bulimie, Anorexie, Neurologische Prozesse, Psychodynamik, Genetische Störungen, Metaanalyse

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