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Schweiz: Rechtliches zum Thema POS / ADHS

Immer wieder gelangen an mich Anfragen im Zusammenhang mit der IV-Anerkennung des POS. Hier eine aktualisierte Stellungnahme*:

POS und ADHS: die Unterschiede
Die Begriffe POS (Psychoorganisches Syndrom) und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) werden oftmals sinngleich verwendet. Das ist zumindest in medizinischer Hinsicht verkehrt, denn «ADHS» ist eine international verwendete Diagnosebezeichnung für eine Krankheit. Beim «POS» dagegen handelt es sich um einen juristisch und versicherungstechnisch relevanten Begriff, der nur in der Schweiz Anwendung findet. Eine Anerkennung eines Geburtsgebrechens als „POS“ im Sinne von Ziff. 404 der Geburtsgebrechensverordnung (GgV) hat allein zur Folge, dass die Invalidenversicherung bis zum vollendeten 20. Altersjahr finanziell für die notwendigen medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungen des POS aufzukommen hat. Therapeutische Implikationen kommt dieser Bezeichnung nicht zu. Mit anderen Worten: Bei der Beurteilung der IV geht es nur um die Zuordnung des Kostenträgers und nie um die Beurteilung der Therapiebedürftigkeit eines Kindes. Festzuhalten ist, dass bis zum endgültigen Entscheid der IV die Krankenkasse leistungspflichtig ist. Notwendige Therapien dürfen nicht aufgeschoben werden.

Anpassungen/Änderungen
Wie die Geburtsgebrechensverordnung im konkreten Fall ausgelegt werden soll, wird in den unregelmässig erscheinenden „Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung“ (KSME) festgehalten. Es gelten also immer die in diesen Kreisschreiben jeweils festgeschriebenen (und teils aktualisierten) Leitlinien. Dem letzten KSME vom März 2012 können Änderungen in der Begrifflichkeit und im Anerkennungsverfahren entnommen werden: So wird darin auf die Abkürzung „POS“ verzichtet und nur noch von GG 404 (GG = Geburtsgebrechen) gesprochen. Neu ist zudem die Erfordernis, dass neben dem Nachweis der erfüllten Anerkennungskriterien für das GG 404 zusätzlich auch das Vorliegen einer ADHS belegt müsse.

Die „POS“-Kriterien der IV
Die Voraussetzungen für eine GG 404-Anerkennung können als erfüllt gelten, wenn bei normaler Intelligenz und vor dem neunten Geburtstag mindestens Störungen des Verhaltens (im Sinne krankhafter Beeinträchtigung des Gefühlslebens oder der Kontaktfähigkeit), des Antriebes (gemeint sind hier Hyper- und Hypoaktivität), des Erfassens (gemeint sind vor allem visuelle oder auditive Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit ausgewiesen sind. Diese Störungen/Symptome müssen nicht unbedingt gleichzeitig vorhanden sein, sondern können nacheinander auftreten. Ausserdem muss eine Behandlung vor dem 9. Geburtstag begonnen haben. Anerkannt als medizinische Behandlung gelten kinderpsychiatrische Behandlung des Kindes und seiner Familie, medikamentöse Therapie, Ergotherapie, nicht aber Logopädie, Psychomotorik, Spezial- oder Stützunterricht, Formen der integrativen schulischen Förderung oder andere unterstützende Massnahmen.

Nach dem 9. Lebensjahr
Grundsätzlich ist es möglich, auch nach dem Erreichen des 9. Altersjahres eine erstmalige Anerkennung der Problematik als GG 404 zu  erreichen. Nachgewiesen  werden  muss  in diesen Fällen,  dass  vor  dem  9. Altersjahr sowohl eine Diagnose gestellt wurde, als auch eine spezifische, medizinische Behandlung stattfand.

Kein POS trotz ADHS, ist das möglich?
Die Merkmale des GG 404 und die Symptome der ADHS überschneiden sich. Nicht immer zeigen ADHS-Patientinnen und -Patienten alle für die GG 404 -Anerkennung zwingend erforderlichen Merkmale. Ein Beispiel: Es gibt Kinder mit einem ADHS-Vollbild und gutem Ansprechen auf die Therapie mit Stimulanzien, bei welchen keine relevanten oder eigenständigen Wahrnehmungsstörungen vorliegen. Dann ist gemäss aktueller Gesetzgebung eine GG 404-Anerkennung nicht möglich (auch wenn unbestritten ist, dass eine ADHS vorliegt). Ein anderes Beispiel sind intelligente ADHS-Kinder, bei welchen keine Merkfähigkeitsstörungen nachgewiesen werden konnten. Eine rechtliche GG 404-Anerkennung setzt also zwingend voraus, dass alle oben genannten Voraussetzungen gemäss Geburtsgebrechensverordnung erfüllt sein müssen. Allein dieser juristische Aspekt (also: Kriterien kumulativ erfüllt – ja oder nein / rechtzeitige Behandlung – ja oder nein) ist für eine GG 404-Anerkennung durch die IV relevant. Somit kann also durchaus eine ADHS vorliegen, ohne dass ein GG 404, oder wie früher bezeichnet, ein POS anerkannt wird.

Wer ist für die Anmeldung bei IV zuständig?
Eine medizinische Fachperson hat die Diagnose zu stellen und zu begründen. Anträge an die IV müssen aber die Eltern selbst und vor allem rechtzeitig vor dem neunten Geburtstag stellen. Formulare gibt es auf allen Gemeindekanzleien oder via Internet. In den allermeisten Fällen geht dem elterlichen Antrag eine ärztliche Untersuchung des Kindes voraus und der Arzt oder die Ärztin weisen die Eltern auf die Möglichkeit einer IV-Anmeldung hin. Die IV fordert dann beim zuständigen Arzt bzw. bei der Ärztin und/oder bei den zuständigen psychologischen Fachpersonen Berichte an. Die IV prüft den Antrag und die einbestellten Unterlagen und erlässt zur gegebenen Zeit einen Vorbescheid, in welchem sie ihre Entscheidung in Aussicht stellt. Erst später folgt eine sogenannte Verfügung.

Die IV sagt «kein GG 404» – was tun?
Falls die Eltern mit dem Vorbescheid der IV nicht einverstanden sind, sollten diese in einem ersten Schritt mit dem Arzt oder der Ärztin, welche(r) den Fachbericht schrieb, Rücksprache halten. Zu negativen Entscheiden kommt es meistens dann, wenn die IV nicht alle der oben genannten Kriterien als erfüllt betrachtet. Falls die Eltern und die medizinische Fachperson der Ansicht sind, dass die GG 404-Kriterien sehr wohl erfüllt sind und die IV sich geirrt haben könnte, sind bei der IV innerhalb von 30 Tagen schriftliche Einwände vorzubringen. Ist die IV-Stelle trotz der elterlichen Einwände gegen den Vorbescheid der Auffassung, dass die GG 404-Kriterien nicht erfüllt sind, erlässt sie eine Verfügung, welche vor Versicherungsgericht angefochten werden kann. Im Konfliktfall bewährte es sich, wenn sich die Eltern rechtzeitig juristisch beraten lassen (zum Beispiel durch die Procap). Leider ist es nicht immer zu umgehen, dass Eltern zur Geltendmachung ihrer Ansprüche den Rechtsweg beschreiten müssen.

GG 404 definitiv abgelehnt. Und jetzt?
Falls keine GG 404-Anerkennung zustande kommt, könnte allenfalls noch Art. 12 IVG zur Anwendung gelangen. Gemäss diesem “Eingliederungs-Artikel” haben Versicherte einen Anspruch auf medizinische Massnahmen, welche unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben abzielen, aber der Behandlung des Leidens an sich gelten. Dazu zählt bei Kindern mit einem GG 404 auch eine ärztlich verordnete Psychotherapie, wenn mit dieser Massnahme die Prognose hinsichtlich der späteren beruflichen Eingliederung verbessert werden kann. Ein Antrag muss wiederum durch die Eltern selbst erfolgen.

IV-Leistungen bei erwachsenen ADHS-Patientinnen und -patienten
Die IV leistet bei Erwachsenen – unabhängig von der Diagnose – grundsätzlich keine Leistungen an Behandlungskosten. Bei längerfristiger gesundheitlich bedingter Arbeitsunfähigkeit können indes  IV-Wiedereingliederungsmassnahmen erfolgen (wobei auch diese Massnahmen nicht von der Diagnose abhängen, sondern vom Ausmass der durch die Krankkeit bedingten Behinderung, an der Ausbildung und dem Berufsleben teilzuhaben).

Rechtsvorbehalt
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass oben genannten Informationen nicht rechtsverbindlich sind. Ausschlaggebend sind alleine die entsprechenden Gesetzes- und Verordnungstexte sowie die in den letzten Jahren erlassenen Urteile der Versicherungsgerichte. Eltern sollten sich im Zweifelsfall durch die Elpos, die zuständige medizinische Fachperson und/oder juristisch beraten lassen.

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* Dieser Text erschien erstmals in der Zeitschrift “elpost” Nr. 36, Herbst 2008.

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