ADHS Verbieger und Verbrecher der Wahrnehmung
Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Selbst- und Fremdwahrnehmung bei ADHSlern ein Problem darstellt.
Dabei ist es aber häufig so, dass im Kern eine sehr richtige intuitive Erfassung besteht. Die Frage ist dann nur, was in dieser Wahrnehmung der Umgebung bzw. emotionalen Welt tatsächlich “wahr” ist.
Einerseits gehört zu ADHS eine emotionale Entwicklungsverzögerung. Das ADHS-Gehirn hat halt also Probleme, in der emotionalen Erfassung bzw. Bewertung und Verarbeitung von Gefühlen, Spannungen, Frustrationen etc.
Kognitiv bestehen aber eben keine entsprechenden Störungen. Ganz im Gegenteil: Viele ADHSler sind ausgesprochen schnell (bis vorschnell) in der Erfassung von Zusammenhängen, Strukturen, Beziehungen, Abhängigkeiten. Sie kommen aber eher selten mit Gleichaltrigen klar. Und meistens (natürlich nicht immer) haben sie eigentlich RECHT.
Hier ist schon einmal eine mögliche Schere zwischen der emotionalen und der “rationalen” Wahrnehmung der Welt zu erwarten.
Eine zweite Hürde ist die Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche. Diese Problematik ist erfahrungsgemäss für die Umgebung schwer oder gar nicht nachvollziehbar. Wenn aber “normale” Geräusche oder Reize als zu grell oder laut, zu schrill oder ekelig empfunden werden, so ist das eine Empfindung, die man nicht in Abrede stellen sollte. Die Reizoffenheit führt zu einer schnelleren Überreizung und Erschöpfbarkeit. Aber auch diese kann die Umgebung häufig nicht begreifen. Wiederum wird man dann häufig zu hören bekommen: “Stell Dich nicht so an!”
Auch die Variabilität der Anwendbarkeit höherer Handlungsfunktionen ist für die Umwelt unbegreiflich. Und ja für den ADHSler selber auch. Man kann sich eigentlich nur selber misstrauen.
Nun kommt hinzu, dass häufig ja weitere Familienangehörige oder auch enge Bezugspersonen im Umfeld “anders” als die Anderen sind. Dies aber nicht wahrhaben wollen. Ich habe mehrere ADHSlerinnen und ADHSler kennengelernt, die Auffälligkeiten bei ihrer Mutter oder ihrem Vater “gespürt” haben. Das muss nicht immer ADHS sein, sondern kann sich auch auf Depressionen oder Traumata / Dissoziationen beziehen.
Wichtig ist aber, dass nun die Rückmeldung kommt, das bei dem Vater oder Mutter “alles in Ordnung” sei. Und der ADHSler falsch wahrnimmt.
Falsch ist aber nicht die eigene Wahrnehmung, sondern die Verbiegung der Wahrnehmung auf den Blickwinkel oder Horizont der Eltern. Sie machen sich zum Koordinatensystem für richtig und falsch.
Die logische Konsequenz ist, dass die ADHSler ihrer eigenen Wahrnehmung von Wahrheit immer weiter misstrauen.
Leider stossen sie dann in der Folge ihres Lebens auf zahlreiche Verbieger und Verbrecher (im Sinne von Brechen der eigenen Persönlichkeit). Das können Lehrer, leider aber eben auch häufiger Therapeuten und Ärzte sein.
Sie machen wiederum den eigenen Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont zum Maß der Dinge. Und gemessen daran, muss der ADHSler auf der Strecke bleiben.
Ein grosses Problem in Deutschland ist, dass man nicht niederschwellig selbständig arbeiten kann. In der Schweiz ist das problemlos möglich. So können ADSler viel besser ihre Stärken ausspielen indem sie selbständig beginnen zu arbeiten bis sie sich sicher sind, dass es wirklich das ist was sie wollen und können. Das fördert die Wahrnehmung und stärkt das Selbstvertrauen. Denn ADSler lieben es aktiv zu sein und kreativ. Sie wollen etwas tun.
Aber in D lässt man sie nicht ohne zuvor alle möglichen Papiere einzuholen. (Ev. nicht direkt zum Thema passend, aber im Endeffekt genau die Problemzone).
Es scheint mir ein grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft zu sein, alle, die aus der vorgegebenen Spur ausscheren, abzulehnen. Diese Menschen stören den Ablauf im System und erfordern mehr Zeit, Energie, Auseinandersetzung als vorgesehen. Darum erleben sie viel Ablehnung. Ich denke, es ist an der Zeit, gegenzusteuern. Ich ermuntere hiermit alle, gegen den Strom zu schwimmen. Das ist anstrengend, stimmt. Aber nicht mehr, als ständige Überanpassung, und dabei doch viel erfüllender, wenn man seinen eigenen Weg geht. Lassen wir uns den nicht schlecht reden!
An: theresalink,
Ich stimme mit Ihnen voll und ganz überein!
Ich selbst als versuche als AD(H)S Betroffener (mit ASS Komorb.) genau diesen Weg des “Widerstandes” zu gehen. Und ich hoffe es gelingt mir in Zukunft zum einen mein Ziel zu erreichen in dieser “konformitätssüchtigen” Anpassungsgesellschaft, einen Platz zu finden wo ich entsprechend meiner Begabungen, meiner Defizite und Behinderungen, als Individuum mich zufrieden Selbstverwirklichen kann und darf. – Andererseits wünsche ich mir dies nicht als “Underdog” (Außenseiter, Minderleister und Soziapathologie) machen zu müssen, in Form von Behinderungsantrag, HarzIV, EU-Rentenantrag, bei Misserfolg als Niedriglohnarbeiter und Aufstocker mit immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeit und Krankheit; ich wünschte mir dies wenigstens in Würde erreichen zu können. Denn hätte ich die richten Hilfen, das richtige Verständnis und das recht auf Bildung mit Nachteilsausgleich, so könnte ich vollwertiges Mitglied der Gesellschaft immense viel Beitragen. – “Wie viel Potential geht dabei verloren?” Ja, noch gehe ich voll Sinnhaftigkeit und Überzeugung diesen enorm aufreibenden Weg des Widerstandes, doch ob ich es auch wirklich schaffen sollte bleibt, sehr, sehr fraglich. Der Erhalt von Würde, Selbstwert und Sozialstatus ist kaum aufrecht zu erhalten! Wie mir geht es vielen und die Aussicht auf Hilfe, Unterstützung, Verständnis oder gar nur der zweifelhafte Erfolg, als letzte Hoffnung auf GdB/ EU-Rente ist nach meinen aktuellen Wissensstand so gut aussichtslos.
Was bleibt dann noch?
– Das Anpassungsspielchen mitspielen diesem Menschen wie ich nicht gewachsen sind? “Und täglich grüßt das Murmeltier.” “Drehtür Patient und HarzIV Kunde?”
– Glück! “Der richtige Job mit den richtigen Menschen mit Aussicht auf Individuation?”
-Oder der typische Zusammenbruch mit dem Kommentar: “Ein weiterer Mensch der am Leben zerbrochen ist!” “Versager, Willensschwacher, Exzentriker!”
Wenn wir die diesen Weg gehen doch wenigsten gesehen würden, unser tun und müssen richtig verstanden würde und wir am Ende wenigstens etwas bewirken könnten…!
Ja, auf diese Art von Verständis und Hilfe hofft natürlich jeder. Und natürlich wäre es viel angenehmer, seine Freunde, seinen Job und seine Würde dabei zubehalten. Wer weiß, wieviele es auf diese Art schaffen. Ich ziehe meinen Hut für jeden von ihnen. Ich selbst habe es nicht nicht auf die sanfte Art geschafft.
Wie “normal” man eigentlich leben möchte, muss ja am Ende jeder selbst entscheiden. Ich habe schon lange gewusst, dass ein normaler Job mit 38 h oder mehr zuviel ist. Um nicht in die allzu bekannte Dauerüberlastung zurückzufallen, lohnt es sich, die eigenen Grenzen kennenzulernen, neue Maßstäbe zu entwickeln. Mittlerweile erscheint mir das “Normale” weniger erstrebenswert als je zuvor. Ich habe meine Schwächen erkannt. Und ich sehe meine Stärken. Niemand kann wollen, dass alle gleich sind!
Der Aufruf zum Abweichen von der Norm war keine leichtfertige Parole. Er ist die Konsequenz aus meinen Erfahrungen und der Reflexion der letzten Jahre. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen und findet hoffentlich seinen eigenen Weg, durch dieses Leben zu gehen. Machen wir das Beste draus!
Ganz ganz großen Dank für diesen Beitrag… Das ist ein, wenn nicht der Kern vieler Probleme und erklärt mir, warum ich, trotz “äußerlichen Erfolgs (=Anpassung unter massivster Anstrengung= völlige Verausgabung)” dann doch so einen heftigen Zusammenbruch hatte. Bzw, genau wie es C.J. Kugler schrieb, mich nicht mehr in der Lage sehe, auch nur minimalen Außenanforderungen gerecht zu werden… Über Erwerbsminderung, bzw -unfähigkeit wird derzeit entschieden—- und der soziale Abstieg ist das, was meinen Selbstwert NOCHmal ganz einschneidend minimiert.
Danke für den guten und hilfreichen Artikel
Auch ich habe diese “Wahrnehmungen” im Bekanntenkreis gemacht.
Ganz besonders schlimm, wenn die “Verbieger”, die oft letzten Anlaufstellen der Hoffnung auf dem Leidensweg, dann Therapeuten oder Ärzte sind. Wenn pathologische Beziehungsmuster gerade in diesem Vertrauensverhältnis bestätigt, statt aufgelöst werden.
Egal ob bewusst oder unbewusst, die fatalen Konsequenzen für das Vertrauen in sich selbst/die eigene Wahrnehmung und die der Anderen sind dann logischerweise nur schwer mit Selbigen (Berufsstand) aufzuarbeiten – bis unmöglich.
Leider auch heute noch ein Punkt, der, gemessen an den Konsequenzen für den Patienten, viel zu wenig Beachtung findet.
Ich finde es sehr gut beschrieben und erkenne ich mich da auch sehr gut!
Sehr lange hatte ich meine Wahrnehmung nicht zugetraut, aber immer wieder, merke ich dass ich rasch richtig gesehen habe, aber es nicht erklären kann und nicht geglaubt wird.
Sehr verständlich und nachvollziehbar. Erklärt für mich auch warum die Probleme beim altern eher zunehmen. Als Betroffener sieht man die Differenzen immer deutlicher, vermutet den Fehler bei sich selbst und wertet sich entsprechend ab. Da sind Selbstwertprobleme doch nicht verwunderlich.
Ganz genau. Gerade die Selbstwertproblematik bzw. auch eine gewisse Ängstlichkeit bzw. das ständige Abscannen der Umgebung, um nicht wieder in solche Situationen zu geraten ist sehr anstrengend…
WoW! – Absolut treffend beschrieben!
Wie ernsthaft die dabei entstehenden psychosozialen Anpassungsschwierigkeiten werden können, wird dabei häufig übersehen. – Und dies mit ernsten Folgen.
Es gibt AD(H)Sler diese so massiv, mittlerweile, mit Folgestörungen, darunter zu Leiden haben, dass sie nicht mehr den Gesellschaftlichen Anforderungen, ausreichend, nachkommen können.
Dies zeigt sich dann nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungs- und Bewertungsproblemen in Partnerschaft und Familie, sondern besonders auf Arbeitsplatz, Karriere und Arbeitslosigkeit.
Einige dieser AD(H)Sler stehen kurz vor der EU- Berentung oder bedürften zumindest einer zeitweisen Erwerbsunfähigkeit, diese jedoch in den allermeisten Fällen nicht stattgegeben wird. – Da es sich offiziell bei AD(H)S nicht um einer gleich gestellten Behinderung handelt wie beispielsweise ein Asperger Syndrom.
Doch letztendlich ist es so, dass der AD(H)Sler, innerhalb seiner Entwicklung, über das gleiche Schwierigkeits- Niveau und Hilfebedarf verfügt wie so mancher aus dem Autismus Spektrum auch. – Wenn nicht sogar häufig eine Komorbidität bestehen sollte. – Jedoch bleibt diese Hilfe dem AD(H)Sler versagt.
– Oftmals auch mit katastrophalen Konsequenzen.
Im Kern ist es bei vielen meiner Patientinnen und Patienten in Bad Kösen so, dass die Verbiegungen bzw. Anpassungsprobleme bei scheinbar gelungener Anpassung eben dann zu einer Erschöpfung bzw. Dekompensation führen. Eigenltich haben dabei die ehemals hyperaktiven Jungen bzw. Mädels es leichter als Diejenigen, die scheinbar “keine” Symptome haben (diese aber eben gar nicht zeigten).
Ich habe durchaus auch schon Erwerbsminderungsrenten bei Erwachsenen mit ADHS befürwortet. Nur ist dies halt eigentlich nie eine gute Lösung, da es eben Hartz-IV-Niveau bedeutet Besser wäre eine Behandlung, die aber dann selten in 4 bis 6 Wochen einer Reha möglich wäre….
Sehr gut. Genau diese “Wahrnehmungen” habe ich auch gemacht und mich jahrelang damit gequält. Gut, dass du das mal angesprochen hast.