Störfaktor ADHS
Störfaktor ADHS
- Im Rahmen einer Standortbestimmung, die ich mit meinen ADHS-Patientinnen und -Patienten jährlich durchführe, versuche ich seit über einer Woche erfolglos, die Lehrkraft von Aisha, einer meiner jungen ADHS-Patientinnen, zu erreichen. An mittlerweile drei per Mail vereinbarten Telefonterminen klingelte ich ins Leere. Solches passiert mir nicht nur mit Aisha, sondern auch mit Benjamin, Leon, Bernadette und anderen Kindern mit einer ADHS aus meiner Praxis. Ich stosse auf Widerstand. Irgendwann und irgendwie erhalte ich in den meisten Fällen zwar Auskunft, wobei ich oft das Gefühl nicht loswerde, mit meiner Anfrage einfach nur zu stören.
- Im Rahmen der jährlichen Standortbestimmung habe ich heute mit der Lehrerin von Joel, einem meiner Patienten mit Asperger-Syndrom, telefoniert. Ich spürte Wohlwollen, Interesse und Kooperationsbereitschaft. Solches passiert mit nicht nur mit Joel, sondern auch mit den Lehrerinnen und Lehrern von Florian, Kathy und anderen Patientinnen und Patienten mit Störungen aus dem autistischen Formenkreis. Die meisten Lehrkräfte dieser Schüler/-innen würden vieles dafür geben, ein autistisches Kind besser verstehen und und fördern zu können.
- Im Kanton Aargau haben wir seit ein paar Jahren eine dem kantonalen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) angegliederte ärztlich geleitete Autismusberatungstelle für Kinder. Ein spezielles Ambulatorium für Kinder mit einer ADHS (oder mit Verdacht auf ADHS) existiert nicht.
- Auftretenshäufigkeit der ADHS: ungefähr 5 von 100 Kindern.
- Auftretenshäufigkeit von Autismus: ungefähr 2 von 1000 Kindern.
Zum Glück kommt es immer wieder vor, dass mir Lehrkräfte begegnen, welche ihren Schülerinnen und Schülern mit einer ADHS mit sehr viel Einfühlungsvermögen, Engagement und Knowhow begegnen.
Ein Segen – wenigstens für diese ADHS-Kinder.
Das Problem der Lehrkräfte ist überall das Selbe. Unterqualifiziert, behaftet mit Vorurteilen, durch die Klassengrößen ständig überfordert und blind für die Hochbegabungen in einzelnen Teilbereichen. ADHS-Kinder oder auch Erwachsene, so wie ich einer bin, werden in manchen Bereichen überfordert und in manchen unterfordert. Strickte Lehrpläne müssen eingehalten werden und es gleicht einer psychischen Misshandlung!
Andere Denkweisen und komplexere Herangehensweisen bestimmter Themenbereiche werden einem strickt untersagt. Viele Fragen die einem auf der Seele brennen werden nicht beantwortet oder gar verboten. Und dann wundern sich Lehrkräfte über wachsende Agressionen bei ADHS-Kindern oder Arbeitgeber bei ADHS-Erwachsenen.
In meinem Blogbeitrag vom 22.12. bin ich auch schon darauf eingegangen, dass es kein Defizit, sondern eine Gabe ist. Das Gehirn soll ja angeblich nicht in der Lage sein, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Aber was, wenn doch die Masse die wir ADHS-Menschen aufnehmen wichtig ist.
Wir können mit der Menge an Informationen nur noch nicht umgehen. Vermehrt komme ich zu dem Schluss, dass 70% der Informationsflut emotionaler Herkunft ist. Wir sind sehr sensitiv und haben schon allein deshalb eine ganz andere Sichtweise der Umwelt! Unsere Logik ist vollkommen anders aufgebaut.
Bei Unterhaltungen mit anderen Menschen die diese Diagnose teilen, merkt man sehr viele Parallelen im Denken und Handeln. Es sind dann meist auch sehr komplexe Denkweisen die schon einem Worst-Case-Scenario entsprechen. Und auch dabei sind bei unseren logischen Schlussfolgerungen mit dem größten Einfluss die Emotionen dabei. Und so etwas finde ich bei “normalen” Menschen nicht wieder!
Auch das soziale Angagement ist bei uns mehr ausgeprägt. Normal und rationell wäre es, ertragreich und gewinnorientiert zu denken. Wir denken aber eher sozial und harmonisch. Kommen aber dennoch ans Ziel. Teilweise sogar schneller. Aber wie gesagt, komplizierter.
Lieben Gruß
Ingo Kichtan