Biologische Psychiatrie: Wollen wir das?
Neben Schlemmen, Kekse verdrücken und der Kontaktpflege ermöglicht mir die Weihnachtszeit das Entdecken und Lesen neuer Bücher.
Ich wurde fündig.
Endlich erschien wieder einmal ein spannendes, gut geschriebenes und übersichtlich gestaltetes Fachbuch über die ADHS. Ein Fachbuch, bei welchem die Leser/-innen nicht schon nach wenigen Absätzen das Gefühl beschleicht, selbiges doch kürzlich in einem anderen ADHS-Fachbuch schon einmal gelesen zu haben.
Titel: “ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis“. Autoren sind: A. Müller, G. Candrian und J. Kropotov. In diesem Fachbuch werden primär die Möglichkeiten der EEG-basierten Neurodiagnostik bei einem Verdacht auf ADHS erläutert. Die Autoren gehen dabei auf eigene Untersuchungstechniken wie unter anderem die Erhebung der evozierten Potenziale und deren Interpretation ein. Interessant sind unter anderem die sehr übersichtlichen Kapitel zur funktionellen Neuroanatomie der ADHS. Erfrischend auch, dass sich mehrere Kapitel praktischen, klinisch-therapeutischen Fragestellungen widmen. Alles andere also als “graue” Theorie.
Ausgangspunkt der Autoren bildet “ein grosses Unbehagen in Bezug auf die Subjektivität der Diagnostik”. Solange sich eine Diagnostik auf individuelle Beobachtungen von Menschen aus ihren je unterschiedlichen Perspektiven abstütze, blieben diese zu ungenau. Die Autoren fordern eine “objektivierte, auf der Biologie basierende Diagnostik”. Ihrem Konzept nach ermöglichen neurophysiologische Testwerte, gewonnen aus der Messung von Hirnströmen und deren Veränderungen, welche sie mit einem eigens entwickelten Testprozedere erheben, das Erfassen von Biomarkern, welche spezifisch für eine ADHS und deren Subtypen stehen sollen. Mittels Vergleich dieser Daten von möglichen ADHS-Patienten mit jenen in einer in St. Petersburg domizilierten Datenbank mit gesammelten Werten von Hirnströmen gesunder Menschen, liessen sich 89% der (erwachsenen) ADHS-Patienten korrekt diagnostizieren. Die Autoren betonen dabei die Chancen der “Personalisierten Medizin”, deren Tradition sie sich verpflichtet fühlen. Dieser geht es darum, auf Basis biologischer Kenndaten (Biomarkern) passgenaue und auf das Individuum zugeschnittene Therapien zu ermöglichen.
Die Ausführungen von Müller, Candrian und Kropotov lösen bei mir neben Interesse und Anerkennung auch eine Portion Unbehagen aus. Worum geht es?
- Die Biomarker-Diagnostik beruht auf hochgradig technologisierter Forschung. Letztendlich stellen Computer und Gentests Diagnosen und nicht mehr Menschen. Wollen wir das?
- Speziell bei psychiatrischen Diagnosen ist ein biologistischer Ansatz, in welchem psychische Störungen primär auf biologische Gesetzmässigkeiten reduziert werden, meines Erachtens nicht nur falsch, da verkürzt, sondern allein schon aus historischen und politischen Gründen höchst problematisch. Im Faschismus etwa wurden Diskriminierung und Rassentrennung durch biologische Argumente gerechtfertigt. Dass die Autoren diesbezüglich nicht mehr Fingerspitzengefühl gezeigt und sich entsprechend abgegrenzt haben, irritiert.
- Mit einem Exkurs auf öko- und biosystemische Regulationsmodelle versuchen die Autoren, die propagierte biologische Diagnostik und Therapie in ein ganzheitliches, systemtheoretisches und systemtherapeutisches Rahmenkonzept zu stellen. So lesenswert und interessant die Ausführungen im Einzelnen auch sind, über das Ganze gesehen wirkt dieser Annex auf mich wie eine beruhigende Geste einer Mutter, welche ihrem Kind zu verstehen geben will, dass doch alles gar nicht so schlimm ist, alles als Ganzes doch prima zusammenpasst und bald wieder gut wird. Ein mutiger, für mich allerdings misslungener Versuch der Legitimation einer biologistischen Psychiatrie via Zwangsheirat von Systemtheorie und Neurobiologie.
- Um bei ADHS eine 90 % ige diagnostische Treffsicherheit zu gewährleisten, bedarf es keiner komplizierten und teuren Analyse von Biomarkern. Eine zuverlässige ADHS-Diagnostik ermöglicht alleine schon eine auf dem Klassifikationssystem der DSM-IV beruhende klinische Beurteilung von Symptombild und Krankengeschichte eines Patienten.
- Um ADHS-Patienten qualifiziert und individuell behandeln zu können (inklusive einer individuell abgestimmten und gut eingestellten medikamentösen Therapie), bedarf es in allererster Linie gut ausgebildete psychologische und medizinische Fachpersonen, welche Verständnis und Zeit für ihre Patienten aufbringen. Das war immer schon so (und wird es hoffentlich auch bleiben).
- Bei der “Personalisierten Medizin” handelt es sich um eine seit einigen Jahren von der Pharmaindustrie lancierte Kampagne. Da auch zur Behandlung der ADHS seit Jahren keine neuen und besseren Medikamente entwickelt werden konnten, sollen dank aufwändigen und teuren Diagnoseverfahren neue Subtypen von Störungsbildern generiert werden, welche einen “individualisierten” Einsatz von Medikamenten ermöglichen und damit neue Absatzmärkte erschliessen.
- Die von A. Müller entwickelte Diagnostik ist teuer und wird meines Wissens weder von den Krankenkassen noch von der IV bezahlt. Leisten können sich diese Analysen, bereitgestellt durch die Firma HBImed AG (Vorstandsvorsitzender ist A. Müller), nur finanziell sehr gut gestellte Personen aus der Mittel- und Oberschicht. Wollen wir nun auch bei der ADHS eine privatwirtschaftlich und gewinnorientierte 2-Klassenmedizin?
So sehr im Einzelfall eine an Biomarkern ausgerichtete Therapie durchaus ihre Berechtigung haben mag und in Teilbereichen als bedeutsamer Fortschritt angesehen werden kann, geht die Gesamtstossrichtung der biologischen Psychiatrie und erst recht der sich eines Etikettenschwindels bedienenden „individualisierten oder personalisierten Medizin“ in die falsche Richtung.
Zwar ist die ADHS eine primär neurobiologisch bedingte Störung und die Behandlung erfordert in den meisten Fällen Medikamente. Für eine Heilung von Menschen mit einer ADHS bedarf es hingegen weit mehr als nur eine Bestimmung von Biomarkern und eine daraus abgeleitete medikamentöse Therapiestrategie. Dringend nötig sind mehr ADHS-spezialisierte psychotherapeutische Ambulanzen und Erziehungsberatungsstellen. Und mehr öffentliche Schulen und Lehrkräfte, welche ADHS-betroffene Kinder ernst nehmen und in Aus- und Weiterbildungen gelernt haben, auch mit diesen Kindern konstruktiv umzugehen. Und mehr …
Trotz meiner Einwände erachte ich das ADHS-Fachbuch von A. Müller und seinen Kollegen als Meilenstein, um ADHS-Betroffene dereinst vielleicht einmal besser verstehen und behandeln zu können. Für Fachpersonen ist es Pflichtlektüre.
Pingback: Anonymous
Danke (nachträglich) für diese Buchbesprechung. Ich hab’s mir für die Praxis bestellt und bin sehr gespannt.
Müssen es immer und überall Schulen sein? Der UN-Bildungsbeauftragte hat an Deutschland ja gerade diesen aus dem Dritten Reich stammenden Schul-Fetischismus kritisiert. Andere Staaten haben nur eine Bildungs- und keine Schulpflicht und ermöglichen Eltern so ein viel individuelleres Eingehen z.B. auf Probleme von ADHS-Kindern – Probleme, die überhaupt erst in Schulen auftreten, nicht aber, von schweren Fällen abgesehen, etwa im Sportverein usw.
Interessant, sehr interessant.
Deine Bedenken gegenüber der Stigmatisierung und Zweiklassenmedizin ehren dich und waren mir nicht in den Sinn gekommen.
Meines Wissens kostet eine Bio-Marker-Diagnose jedoch weniger als die Diagnose bei der Psychologin. Jedenfalls scheint mir beides ca. im 1000 Fr.-Bereich angesiedelt zu sein. Oder irre ich mich?
Es gibt bis heute keine zuverlässige ADHS-Diagnose via Biomarker, wohl aber Forschung, die in diese Richtung geht. Die ADHS bleibt vorläufig eine klinisch zu stellende Diagnose. Entscheidend für die Diagnose sind das Symptom- und Beschwerdebild, Ausmass der Behinderung im Alltag, der Krankheitsverlauf und die Familienanamnese. Nur schon weil bei rund 80% der ADHS-Betroffenen behandlungsbedürftige Nebendiagnosen vorliegen, ist eine umfassende klinische Untersuchung unumgänglich. “Rückgrad” einer ADHS-Diagnose (und der Komorbiditäten) bilden die diagnostischen Kriterien der Klassifikationssysteme ICD-10 bzw. DSM-IV. Eine ADHS-Diagnose via Biomarker kann eine herkommliche Diagnostik ergänzen, meiner Beurteilung nach aber nicht ersetzen.