Psychotherapeuten und ADHS
bertram (absichtlich klein geschrieben, da Eigennahme) aus dem Cafe Holunder ist ein sehr treuer Leser unseres Blogs. Da revanchiere ich mich gerne und greife seinen Tipp zu einem Link auf einen Beitrag des Koblenzer Psychotherapeuten Joerg Dreher auf, der in einem offenen Brief an seine Kolleginnen und Kollegen bzw. die Psychotherapeutenkammer zur fachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS auffordert. Sehr lesenswert.
Es geht ihm (wie auch uns) darum, dass sich die psychologischen wie auch ärztlichen Psychotherapeuten mit den neurobiologischen Grundlagen von ADHS auseinandersetzen. Auf dem ADHS-Tag in Wuppertal betonte Frau Neuy-Bartmann beispielsweise, dass sie immer noch Anträge der Richtlinienpsychotherapie zurückbekommt, wo der Gutachter die “Psychodynamik der ADHS” erklärt haben möchte. Sie antwortet dann sinngemäss: Die gibt es nicht.
ADHS ist eine Disposition, die eben angeboren und gleichzeitig individuell wie ein Fingerabdruck ausgeprägt ist. Sie kann (muss aber nicht) im Wechselspiel mit Umgebungsfaktoren, Lernerfahrungen bzw. Anforderungen in der individuellen Entwicklung zu Problemen (oder der Entwicklung von besonderen Teilleistungsstärken) führen. Sie kann zu Beeinträchtigungen oder aber zu einer Anpassungsbehinderung bis hin zu Traumatisierungen führen. Die begleitenden Probleme bzw. Folgestörungen lassen Psychotherapeuten noch genug Arbeit. Das geht aus dem Posting von Kollege Dreher sehr schön hervor.
Ob allerdings das Angebot einer Weiterbildung nach psychoanalytischer Sicht nun hilfreich ist, bezweilfe ich doch sehr. Nicht nur, weil sich Psychoanalyse eben gerade als nicht wirksam bei ADHS herausstellte, sondern weil auch die Leiterin der Ausbildung eben eine neurobiologische Disposition von ADHS eher leugnet. So wird das nichts. Das ist zunächst mal meine Sicht …
Dennoch finde ich es grundsätzlich richtig und wichtig, mehr Fachlichkeit und Weiterbildung in den Bereich Psychotherapie bei ADHS zu bringen. Das wird ja von einigen Weiterbildungsinstituten auch schon gemacht. Ansonsten kann ich sehr die Weiterqualifizierung von Cordula Neuhaus vom Kolleg DAT in Münsingen empfehlen.
Mir erscheint das wieder wie so ein Ding, das alle die Sache ADHS aus ihren eigenen Blickwinkeln betrachten und jeder seine eigene Sichtweise für wahrer hält und damit eigentlich zu dem wird, was man bekanntlich einen Ideologen nennt: Nur die eigene Sichtweise ist die richtige, der Rest ist mehr oder weniger Irrweg. Desto sicherer der Einzelne in der Richtigkeit seiner Ansicht ist, desto eher trifft dies wohl zu.
Meiner Ansicht nach gibt es in allen Disziplinen wichtige Diskussionsbeiträge. Meine Haltung zu den einzelnen Parteien ist eher offener, ja selbst zu Hüthers Thesen. So habe ich auch schon mehrfach versucht in den Kommentaren kleine Brücken zu den unterschiedlichen Sichtweisen einzubringen, hier möchte ich meine Gedanken zu den psychoanalytischen Position anmerken.
Die Beziehungsstrukturen sind nicht die Ursache für die ADHS, sondern eine Folge davon.
ADHS ist auch eine Störung der Emotionsregulation. Das ist logisch weil ADHS grob gesagt höhere Gehirnfunktionen beeinträchtigt, die eben für Regulation der Emotionen nötig wären. Dadurch erzeugt ADHS immer auch ein höheres Potential für sonstige Auffälligkeiten und eine höhere Streßempfindlichkeit. Dadurch ist die Bedeutung einer adäquaten Eltern-Kind Beziehung automatisch mit einer hohen Hypothek belastet, die am Ende zu Störungen im Beziehungsgeflecht führen müssen! ADHS Kinder sind schwierig, gleichzeitig empfindlich. Eltern versuchen mit Gewalt diese Probleme in den Griff zu bekommen, Kinder werden noch unwilliger und Neigungen zu oppositionellem Verhalten verhärten die Fronten. Noch klarer wird es, wenn man die genetische Prävalenz beachtet, die der ADHS zu Grunde liegt und bedenkt, das Eltern häufig ebenfalls mehr oder minder Betroffen sein könnten.
In diesem Raum entstehen doch erst die Probleme, die die Psychoanalytiker in der ADHS vermuten und auch finden können. Nur wer im Kern die neurobiologischen Ursachen ignoriert, wird eben nicht weiter kommen als nur an dieser Oberfläche kratzen und am Ende die Patienten schlechter beraten bis dahin, das bestehende Beziehungsdifferenzen durch Schuldzuweisungen an misslungene elterliche Erziehung fortgesetzt und vertieft werden.
Es ist auch kein Problem zu sagen: Ok, das mit der ADHS ist das eine, die Ursache liegt in einem Bereich, in den wir kaum vordringen können um Kausalität herstellen zu können. Aber wie können wir dem Patienten helfen? Was braucht der Patient?
Denn das ist die Aufgabe, die alle Fachbereiche einen sollte: Das Wohl der Menschen die ihr betreut und an deren Wohlergehen ihr interessiert seid und sein solltet. Nicht daran euch selbst zu produzieren und eigene Welt- und Menschenanschauungen zu erklären. Das gilt für alle Beteiligten Parteien, ob Psychoanalytiker, Pädagogen, Neurobiologen, Psychotherapeuten, Psychiater etc.
MFG
Dem stimm ich uneingeschränkt zu. Und dass Hilfsangebote für Betroffene immer eine sehr individuelle und auf die Besonderheiten des Einzelnen zielende Unterstützung darstellen müssen, ist meiner Ansicht nach absolut erforderlich.
Ich selbst bin ein großer Freund von Erkenntnisgewinn durch mehrere Blickwinkel und deren Bereicherung durch Vielfalt.
Was Herr Dreher jedoch mit seinem Brief bezwecken wollte ist, dogmatische, selbstnährende und lobbyhafte Haltungen durch Expertise anzuregen.
Sein Anliegen ist sicherlich im Sinne der Betroffenen; er erwähnt Methoden der Behandlung, die objektiv nachweisbar und evidenzbasiert wirksam sind.
Das Vorenthalten dieser Behandlungsmethoden bzw. deren Verteufelung und somit “Mitschuldig” für das Leid der Betroffenen zu sein, die unter Umständen wertvolle Zeit verlieren, um ihr eigenes Leben zu sortieren, das ist meiner Meinung nach der Kern!
Es geht um Verantwortung, die nachweisbar wirksamsten Behandlungsmethoden nicht abzuwerten, nur weil man einer anderen Auffassung ist. Das kann zu großem Schaden führen und ist meiner Meinung nach eine moralische und berufsethische Verfehlung.
Ich schieb direkt mal meine Antwort an Herrn Dreher hinterher:
Sehr geehrter Herr Dreher,
durch einen Hinweis des Blogs von Dr. Martin Winkler (http://adhsspektrum.wordpress.com/) bin ich zu Ihrem offenen Brief an die Bundespsychotherapeutenkammer gelangt.
Als selbst betroffener Sozialarbeiter kenne ich beide Seiten der Medaille; und diese aus verschiedenen Perspektiven. Die Sichtweise der Ausbildungstherapeutinnen und –therapeuten, die teilweise zusätzlich noch analytische Ausbildungen und Zulassungen haben, ist bezüglich des Themas ADHS ausschließlich psychodynamischer Genese und wird als Traumatisierung verkannt.
Ich musste am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, jahrelang durch psychiatrische und psychotherapeutische Praxen zu irren, um durch Zufall zu der Diagnose ADHS zu gelangen. Ich weiß genau, was es bedeutet, sämtliche Psychopharmaka einzunehmen, um auf eine Erleichterung zu erwarten, leider nur Nebenwirkungen abzubekommen und letztendlich völlig zu versacken.
Die Psychodynamik, die durch die jahrelange Fehlbehandlung entsteht, sowohl durch völlig falsche Grundannehmen des psychotherapeutischen Behandelnden, als auch des oder häufig leider der behandelnden Psychiater(s), kann die ohnehin schon gegeißelte ADHS-Persönlichkeit endgültig in ihrem häufig nur noch brüchigen Selbstbild bis zur völligen Verzweiflung oder sogar Selbstaufgabe befördern. Jahrelange Behandlungen ohne (auf die Kernsymptomatik bezogen) nennenswerte Besserungen können wie eine Mühle wirken, die schrittweise zu völligen Dekompensation führt.
Ohne Zweifel ist es wichtig, die die ambivalenten und teilweise verheerenden Erfahrungen des „nicht Könnens trotz Wollens“ oder auch der emotionalen Instabilität und Impulsschwäche psychotherapeutisch zu behandeln, aufzuarbeiten und Schuldgefühle zu relativieren. Die Komorbiditäten, die zumindest im Erwachsenenalter eher die Regel als die Ausnahme sind, entstehen eben aus diesen „Fehlanpassungen“, die allerdings bei ADHS auf biologischen und oftmals erst später hierdurch verursachten umweltbedingten Faktoren begründet liegen.
Wenn man noch einen Schritt weiterginge, was sicherlich in gewisser Weise unproduktiv sein könnte, nicht ohne gesellschaftliche und für das Individuum nachteilige Folgen haben könnte, sollte man doch darüber nachdenken, wie Behandlungsfehler, analog zu denen in der allgemeinen Medizin, geahndet werden könnten. Sind diese doch oftmals dafür verantwortlich, dass viele Betroffene ihr Leben lang gar nicht oder falsch behandelt, teilweise auf völlig falsche Wege geleitet werden, was für jeden einzelnen Betroffenen verheerende Folgen haben kann. Diese, zugespitzt formuliert, unterlassen Hilfeleistung, führt nicht selten zur völligen Zerstörung ganzer Existenzen.
Sicherlich ist dies bei klinischen Diagnosen und der mangelhaften Ausbildungsinhalte der heutigen Institute und Universitäten nicht auf den einzelnen Behandelnden zurückzuführen, es ist gesamtgesellschaftliches Problem. Hinzu kommt häufig das „schulenspezifische“, dogmatische Festhalten an ätiologischen und dynamischen Sichtweisen, die zum Teil obsolet und zu einseitig sind, der Komplexität des menschlichen Lebens nicht gerecht werden und evidenzbasierte Ergebnisse schlichtweg ignorieren.
Es bleibt also zu hoffen, dass mehr Professionelle Ihrer Zunft ihre Sichtweise erweitern, die Wege der Mythen verlassen und sich auf Fakten berufen, die nicht auf Spekulationen und Fehlinformationen beruhen.
Ich möchte Ihnen meinen persönlichen Dank für diesen hervorragend formulierten Brief aussprechen, der meines Erachtens längst überfällig war. Es ist sicherlich auch wichtig, dass so ein Appell aus den „eigenen Reihen“ kommt, da es mit Sicherheit für Außenstehende ungleich schwerer ist, von der Bundespsychotherapeutenkammer ernst genommen zu werden.
Ich grüße Sie freundlich und solidarisch
Oh, das ist sicherlich längst überfällig. Schweben mir doch noch die mahnenden Kommentare der Kammer im Gedächtnis, wie sehr diese die Einschränkung der Verordnung von Stimulanzien begrüßte. Generell sicherlich keine schlechte Idee, mangelte es in Deutschland nicht an Versorgungsplätzen für Betroffene. Die Aussagen zwischen den Zeilen leider: Es wird zu viel Ritalin verschrieben von jedem Hausarzt an den überforderten Arbeiter oder Studenten, der den Anforderungen des Lebens nicht mehr gerecht wird. Außerdem kann man ja sowieso jede Störung weg(psycho)therapieren. Natürlich rein dimensional betrachtet!
Wenn du den Link jetzt nicht vergessen hättest, müsste ich ihn jetzt nicht googeln 🙂