Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit in der Schule
Was uns die Neurobiologie und Neuropsychologie über Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit in der Schule erklären könnte
Ich bin aktuell auf ein englischsprachiges Buch gestossen, dass mich sehr anspricht. Es beschäftigt sich mit dem Thema “Distraction” = Ablenkbarkeit in der heutigen Zeit.
Distracted: Why Students Can’t Focus and What You Can Do About It von James M. Lang
Nun wäre es natürlich einfach, wenn man auf die zahlreichen Ablenkungsquellen der “heutigen Jugend” schimpft, vielleicht auch noch auf die Corona-Bedingungen des remote learning und die Probleme, dann am Esstisch oder engen Bedingungen in einem Mehrpersonen-Haushalt die Schulaufgaben zu bewältigen. Aber darum geht es gerade nicht (zumal das Buch vor Corona fertig gestellt wurde).
Vielmehr untersucht der Autor die Grundlagen von Aufmerksamkeit und eben die biologischen oder neuropsychologischen Voraussetzungen von Lernen unter dem Blickwinkel Aufmerksamkeit. Es geht dabei schwerpunktmässig um die Ablenkbarkeit in der Schule. Also “unser” Thema.
Eigentlich gar nicht unter dem Aspekt von ADHS oder anderen Entwicklungsbesonderheiten im Kindes- und Jugendalter. Sondern erstmal die ganz normalen Voraussetzungen, die wir brauchen um aufmerksam sein zu können.
Ich habe mal für mich einige Kernsätze aus dem Anfangsteil des Buches unter dem Aspekt Ablenkbarkeit in der Schule für mich heraus gesucht…
Erstens: Aufmerksamkeit ist eine aktive Leistung.
“Unsere Schüler sind aus denselben Gründen abgelenkt, aus denen wir uns heutzutage alle abgelenkt fühlen: weil wir leicht ablenkbare Köpfe haben, weil Aufmerksamkeit schwierig ist und weil unsere Geräte sie noch schwieriger machen.”
So könnte man den Normalzustand unseres Gehirns am besten als abgelenkt oder zerstreut charakterisieren, aus dem sich in bestimmten Situationen fokussierte und anhaltende Aufmerksamkeit ergibt.
Es ist also verdammt schwierig, sich in einen aktiven Modus (dem sog. Task-Positive-Network) aus dem Normalzustand des Ruhezustandes (Default-Mode-Network) zu bewegen !
Lehrer und viele Eltern neigen zu der Annahme, dass Aufmerksamkeit die Norm darstellt, von der Ablenkung ein Abfall oder Versagen ist.
Das Gegenteil ist also der Fall ! Und dieser Aktivierungsprozess ist anstrengend bzw. kostet Energie.
Das bedeutet aber eben – und das ist auch meine Erfahrung – dass die Vermeidung von Ablenkungsquellen durch Smartphone oder andere Technik zwar ganz nett und wichtig ist, aber nicht das grundlegende Problem im Bereich der Aufmerksamkeit beendet. Es reicht nicht, Ablenkungen zu verhindern. Man muss Aufmerksamkeit aktiv bzw. pro-aktiv durch das Handeln der Lehrkräfte (oder eben anderer Personen) herstellen.
Lang schreibt dazu :
“Aber wir werden die Schüler von heute nicht erfolgreich unterrichten können, wenn wir nicht einen grundlegenden Wandel in unserem Denken vollziehen: weg von der Vermeidung von Ablenkung und hin zur Kultivierung von Aufmerksamkeit.”
Zweitens : Ablenkbarkeit in der Schule – Die Aufmerksamkeit kann durchaus hergestellt und gehalten werden
“Unsere Studenten sind weiterhin durchaus in der Lage, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und Ablenkungen auszublenden. Sie können sich auf die Lehrer , auf einander und auf das Kursmaterial konzentrieren, wenn die Bedingungen richtig sind.”
Die zentrale Frage beim Lernen ist also : Was fängt also das Interesse der Aufmerksamkeit des Schülers / der Schülerin ein bzw. was sind absolute “No-go´s”, die zum sofortigen Ausstieg und damit Verlust der aktiven Aufmerksamkeit führen ?
Drittens : Wir brauchen ein Aufmerksamkeits-Management gegen die Ablenkbarkeit in der Schule
“Wenn wir Aufmerksamkeit im Klassenzimmer erreichen wollen, müssen wir sie bewusst kultivieren”, also pro-aktiv durch die Lehrkräfte bzw. die Erwachsene herstellung, fördern und unterstützen”
Stattdessen müssen wir darüber nachdenken, wie die Lernumgebungen, die wir für die Schüler anbieten, sichere und unterstützende Räume sein können, in denen sie inspiriert, ermutigt und dafür belohnt werden, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die harte Arbeit des Lernens richten.
Ich möchte die weiteren Aussagen des Buches nicht vorweg nehmen. Zumal ich noch bei der Lektüre bin.
Es geht um scheinbar “uralte” Dinge. Ruhe im Klassenraum sei hier genannt. Das laute Lesen. Wiederholungen
Und sich eben bewusst auf “eine” Sache wieder konzentrieren.
Was hat das nun mit ADHS zu tun ?
Der Autor nimmt da schon ab und zu Stellung. Etwa, wenn es um den fehlenden Zusammenhang von Fernsehkonsum und ADHS auftreten geht. Aber eigentlich ist es eben eher so, dass Kinder und Jugendliche aus dem ADHS-Spektrum oder eben anderer neurodiverser Besonderheiten eher Indikator-Kinder für die Probleme des Aufmerksamkeits-Management und dem pädagogischen Verwerfungen (ich wollte erst Unsinn schreiben) mit ständigen Wechseln der Methodik, der Bezugspersonen und fehlenden Strukturen und Grundvoraussetzungen zum Lernen sind.
Wenn man sich allein die baulichen Voraussetzungen in vielen Schulen anschaut oder die bis heute fehlende IT-Infrastruktur, dann bekommt man einen ersten Einblick. Das sind keine guten Voraussetzungen, die Aufmerksamkeit aktiv auf das Lernen zu lenken.
Wenn ich mit den Lehrern versuche, über die Thematik von Aufmerksamkeit-Management zu sprechen, suchen sie nach wie vor die Verantwortung beim Schüler und vielleicht noch den Eltern.
Erkenntnisse der Wissenschaft zu Lernen und Neurobiologie ? Werden kaum vermittelt !
Die eigene Aufgabe im Aufmerksamkeits-Management scheint ihnen bisher entgangen zu sein oder völlig unbekannt zu sein.
Ich möchte kein Lehrer – Bashing machen. Das wäre auch unfair.
Ausnahmen gibt es dabei ganz sicher. Aber gerade diese Lehrerinnen und Lehrer, die sich pro-aktiv mit der Herstellung einer Lernkultur und positiven Anregung im Unterrichtsprozess engagieren, gelten dann noch als Aussenseiter bzw. werden dann nicht selten im Kollegium schnell ausgebremst.
Es geht auch anders. Und hier eben ein Lob an alle Lehrerinnen und Lehrer, die unsere Kinder eben aktiv und anregend unterrichten.
Dazu lädt dieses Buch ein. Nicht nur allen Lehramtsstudenten und Lehrerinnen und Lehrern dringend empfohlen.
Welche Hilfen zum Aufmerksamkeits-Management haben sich bewährt beim Lernen ?
Hier interessieren mich Deine Erfahrungen und Tips, wie sich im Kontext Schule die Aufmerksamkeit aktiv gestalten lässt
Quelle . Distracted: Why Students Can’t Focus and What You Can Do About It von James M. Lang
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Interessanter Beitrag, danke dafür! Meine Tochter hat ADHS, und ich bin immer froh, neue Infos zu diesem Thema zu bekommen.