Bildschirmmedien und ADHS (Teil 8)
Baby-TV?
Je jünger die Kinder sind und je häufiger sie fernsehen, umso problematischer sind für sie die Lernerfahrungen, die sie mit und vor dem TV gewinnen. Die vom Bildschirm vermittelten Wahrnehmungserlebnisse unterscheiden sich auch in formaler Hinsicht ganz grundsätzlich von der normalen Wahrnehmung des Kleinkindes im Alltag: Am TV haben selbst grosse Steinbrocken kein Gewicht, Rauch riecht nicht, Pizzas schmecken nicht und anfassen lässt sich rein gar nichts. Das TV-Bild ist flach und der Inhalt, verglichen mit der Realität, verarmt.
Um das Problematische beim TV-Konsum für die Entwicklung einer gesunden Wahrnehmung von Kleinkindern verstehen können, ist Folgendes wichtig: Alle Bilder und Klänge entspringen dem gleichen Ort, nämlich dem Fernseher. Beispiel: Auf der linken Bildschirmseite betritt Anna durch eine Tür ein Wohnzimmer. Auf der rechten Seite des Fernsehbildes sieht das Kleinkind einen bellenden Hund. Für das Kind vor dem TV erklingt das Bellen aber nicht etwa aus der rechten Wohnzimmerseite, es entspringt vielmehr – gemeinsam mit den anderen Bildern und Klängen – der gleichen Quelle, nämlich dem TV. Ältere Kinder und wir Erwachsene wissen natürlich, dass es der Hund ist, der dort rechts bellt. Das Kleinkind weiss das aber noch nicht.
Anders im realen Leben: Auf einem Spaziergang kommt das Bellen eines Hundes, welchen das Kleinkind „dort rechts“ hinter einem Holzzaun wahrnimmt, tatsächlich von rechts. Das Kleinkind lernt im Alltag, visuelle, akustische und räumliche Aspekte der Wahrnehmung räumlich getrennt wahrzunehmen und sinnvoll zu koordinieren. Vor dem TV passiert genau das Gegenteil. Und je mehr Kleinkinder fernsehen, umso weniger haben sie Gelegenheit, im Spiel mit anderen oder draussen stabile Wahrnehmungsmuster zu lernen. Diese bilden dann das Fundament für eine intakte Wahrnehmungsorganisation. Kohärente Wahrnehmungsmuster lernen Kleinkinder ausschliesslich durch Stimulation in der Realität, also wenn eine Zitrone sauer, ein kleiner Schnitt schmerzhaft und das Fahrrad der grossen Schwester verflixt schwer ist.
Mit anderen Worten: Wenn Kinder stundenlang am Tag vor dem TV eine eindimensionale Form der Wahrnehmung trainieren, kann dies (neben grundsätzlich fehlenden Handlungserfahrungen) zu einer Störung der Entwicklung der so genannten multimodalen Wahrnehmung führen. Eine normale Integration und Koordination der verschiedenen Sinnesmodalitäten ist nur dann möglich, wenn das Kleinkind regelmässige und stabile Wahrnehmungsmuster trainiert (also dass der Hund bellt und nicht der Fernseher). Lernt das Kind hingegen, dass mal der Fernseher und mal der Hund bellt, können sich im Gehirn des Kleinkindes keine auf sich wiederholenden Ursache-Wirkungserfahrungen beruhenden stabilen Wahrnehmungsmuster entwickeln. Folgen sind Entwicklungsstörungen der räumlichen Wahrnehmung und des „Rundum-Blickes“.
Fortsetzung: Morgen 20:00, gleicher Kanal.
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Was Sie bezüglich multimodalem Lernen schreiben klingt sehr einleuchtend und deckt sich mit meinen eigenen theoretischen Kenntnissen. Wie sieht es auf der empirischen Ebene aus? Gibt es Studien zu dieser Problematik? Mich würde vor allem interessieren, wie stark die Effekte sind.
freundliche Grüsse