ADHS überfordernde Selbstaufgabe
Ich musste mich immer mehr anstrengen als meine Mitschülerinnen. Ich habe mich immer mehr angestrengt, ich habe meine Leistung gebracht. Immerhin habe ich Hauptschulabschluss. Aber es hat soviel Kraft, soviel mehr Energie gekostet als ich hatte. Und irgendwann hatte ich dann die Erkenntnis, dass es mein Leben lang so weitergehen würde, wenn ich so weitermache. Mich immer mehr und mehr anstrenge, nur um doch mein eigentliches Leistungspotential, mein eigentliches Leben, nicht umsetzen zu können. Ich hätte es nicht mehr weiter geschafft, diese Kraft gegen die Kontrolllosigkeit aufzubringen. Die Stimmungsschwankungen. Die offensichtliche Unfähigkeit, ja Dummheit, mein eigentliches Wissen und Lernen umzusetzen. Es kann doch nur meine Schuld sein, wenn ich da versage. Wenn ich mich und meine Gefühle, mich und meinen Kopf nicht unter Kontrolle habe. Dann kam die Essstörung und gab mir die Kontrolle zurück.
So lautete sinngemäss die Aussage von Marie, die ich vor wenigen Tagen aufnahm. Es mag ein Zufall sein, aber sie kam zufällig in meine Basisgruppe. Und hat sowohl ein in der frühen Kindheit diagnostiziertes ADHS (vom unaufmerksamen Subtyp), wie auch eine räumlich-konstruktive Wahrnehmungsstörung mit einer Rechenstörung (Dyskalkulie). Erst wenige Tage zuvor hatte ich mich bei Piero schlaugefragt, weil ich eine andere Patientin habe und ich erstmals von ihm auf den Zusammenhang von konstruktiven Wahrnehmungsstörungen und der Entwicklung von “sozialen Räumen” (so nenne ich es mal) gestossen wurde. Damit ist sowas wie Abstand und Nähe, Einfühlungsvermögen und Abgrenzungsfähigkeit, eben emotionale Regulation in Beziehungen gemeint. Und jetzt eine weitere Patientin, bei der mir der Zusammenhang von Wahrnehmung und emotionaler Regulationsfähigkeit so deutlich aufgefallen ist.
Marie wurde von ihren Eltern von der frühkindlichen Entwicklung an gefördert. Sie war sicher anders als andere Kinder, aber sie wurde so geliebt und angenommen wie sie ist. Sie erhielt Förderung, sie erhielt Nachhilfe. Obwohl ich persönlich grob ihr intellektuelles Leistungsvermögen mindestens auf Realschulniveau, wahrscheinlich aber Gymnasium einschätzen würde, ging sie auf die Hauptschule. Und kam dort eben eigentlich auch nie zurecht.
Sie erhielt daraufhin eine kinderpsychologische Diagnostik und eben auch die ADHS-Diagnose bzw. Diagnose der Wahrnehmungsstörungen im räumlichen Bereich. Ob eine formale Diagnose einer Rechenstörung erfolgte (Dyskalkulie) weiss ich noch nicht. Für ein Jahr wurde sie im Alter von 10 oder 11 Jahren medikamentös mit gutem Effekt mit Ritalin behandelt. Was natürlich nicht die Rechenstörung beseitigte. Aber immerhin habe sie sowas wie Entspannung kennengelernt, nicht mehr so wie gegen eine Barriere ankämpfen müssen.
Gerade weil sie dann besser war, hielten die Ärzte dann eine weitere Methylphenidatgabe für entbehrlich. Womit die Eltern (natürlich) auch sehr einverstanden waren.
Doch damit begann der Abfall. Des Gewichtes meine ich.
Mit der Pubertät begannen zusätzliche Gefühlsschwankungen, zusätzliche Konflikte mit den Eltern, zusätzliche Anforderungen an Selbstständigkeit. Die sie aber nicht bewältigen konnte.
In ihrem Fall entwickelte sich eine schwere Anorexie sowie zahlreiche Zwänge. Begleitet von Depressionen bzw. selbstverletzendem Verhalten. Und eine Odyssee durch Therapie bzw. Kliniken.
Und sie nahm immer weiter ab, wurde in den Kliniken wegen Erfolglosigkeit entlassen, weil sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. psychosomatischen Kliniken weiter abnahm. Fürchterlich.
In den Arztbriefen werden ihre Eltern als schwierig eingeschätzt. Weil sie sich für ihre Tochter einsetzen. Klar, das Gespräch mit ihnen war anstrengend. Zugegeben. Weil sie so viele negative Erfahrungen mit Therapeuten und Ärzten haben. Kann man kaum verübeln und doch erzeugt es eine angespannte Atmosphäre, eine Art “Rechtfertigungszwang” bei mir. Bis ich mich abgrenze und das Gespräch beende und auf ein nächstes Mal vertage.
Unerkannte Wahrnehmungs- und Teilleistungsstörungen können nachhaltig ein Kind verhunzen. Und sie bestimmen natürlich auch die Wahrnehmung von Eltern bzw. die Wahrnehmung der Eltern auf ihr Kind. Aus meiner Sicht sollte man als Therapeut vorsichtig sein, vorschnell familiäre Konflikte als Ursache für psychische Probleme anzunehmen. Natürlich spielen diese auch eine Rolle und werden in der Therapie natürlich auch eine grosse Rolle spielen.
Wenn es gut läuft, werden Marie und ich eine lange Therapiezeit vor uns haben. Schlicht, weil ihr Gewicht zwischenzeitlich in einem lebensgefährlich niedrigen Bereich angekommen ist. Ein Bereich, in dem man sonst keine Psychotherapie macht. Ich denke, man muss anfangen. Jetzt. Und sich auf die Wahrnehmung von Marie und ihren Eltern einlassen. Vielleicht ist sie ja die Wahr-heit. Bestimmt.
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