Verstehe das wer will
Einmal mehr wurde wissenschaftlich untersucht, wie oft Erwachsene von der ADHS betroffen sind. Die neue Studie stammt aus dem Institut für Sozial-und Präventivmedizin und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Siehe hier bzw. hier: Natalia Estévez mit Dominique Eich-Höchli (Leiterin der Spezialsprechstunde für Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen) und Mitautorinnen: Prevalence of and Associated Factors for Adult Attention Deficit Hyperactivity Disorder in Young Swiss Men.
Die vor kurzem publizierte Studie beruht auf den Angaben von 5656 Schweizer Rekruten, welche an einer grossen Studie zum Thema Suchtrisiko teilgenommen haben. Das Vorliegen einer möglichen ADHS wurde mit dem auf 6 Fragen beruhenden ADHS-Schnelltest der WHO (ASRS-V1.1) erfasst. Eine Auswertung dieses ADHS-Schnelltests erfolgte dann, wenn von den 6 Fragen wenigstens 3 beantwortet wurden. Berücksichtung fanden aktuelle Alkoholprobleme, soziodemografische Daten, Suchterkrankungen in der Herkunftsfamilie und mögliche Komorbiditäten (Depressionen und Antisoziale Persönlichkeitsstörung). Resultate: 4,0% der jungen wehrpflichtigen Männer in der Schweiz sollen eine ADHS haben
Kommentar: Wer wirklich meint, im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie mit dem ASRS-V1.1-Fragebogen ADHS-Betroffene herausfiltern zu können, muss schon ein sonderbares Wissenschaftsverständnis haben. Wie kann man nur die Resultate dieses ultragroben Screeningfragebogens im Rahmen einer Studie als Ein- und Ausschlusskriterium zur Festlegung der ADHS einsetzen? Die WHO schreibt doch ausdrücklich, dass der Fragebogen ein “Ausgangspunkt zur Erkennung der Anzeichen einer ADHS” dient und dass eine Diagnose “nur durch eine klinische Untersuchung gestellt werden” kann.
Ein Screening-Test wie der ASRS-V1.1-Fragebogen ist so konstruiert, dass möglichst alle, die eine ADHS haben könnten, erfasst werden. Logischerweise produziert er daher massenhaft falsch-positive Resultate. Screening-Tests sind also sehr sensitiv, aber nicht spezifisch. Und daher weder im Alltag der klinischen Diagnostik noch in der Forschung brauchbar.
Das Besondere an dieser Untersuchung bzw. an deren Resultat ist, dass die ermittelte Prävalenz für ADHS bei Männern nur 4% betrug. Denn schauen wir uns die Fragen des ASRS-V1.1 hier (PDF) einmal an.
Es nähme mich schon Wunder, wie viele Leserinnen und Leser ohne ADHS nicht auf die vier Häkchen kommen, die im “dunklen Bereich” erscheinen?
Trotzdem: Gestützt auf die Lektüre verschiedener epidemiologischen Studien der letzten Jahre vermute ich, dass auch die ermittelte Prävalenz von 4% immer noch zu hoch ist. Hätte man zur Bestimmung der ADHS eine zuverlässigere Methodik verwendet, läge die Prävalenz wahrscheinlich bei ca. 2 % – 2,5 %. Das entspräche ungefähr der Hälfte der Auftretenshäufigkeit der ADHS bei Kindern, was auch gut zu den Beobachtungen von praktisch tätigen Fachpersonen passen würde.