ADHS und Schulfähigkeit für die 1. Klasse

79 Prozent der untersuchten ADHS-Kinder zu Beginn der 1. Klasse eigentlich nicht schulfähig

Jedes Jahr gibt es so “Klassiker”, die sich in der Presse zum Thema ADHS im Sommerloch und danach wiederfinden. Dazu gehört, dass ADHS angeblich zu häufig diagnostiziert wird bzw gerade “Kann-Kinder” betrifft, die aufgrund ihres Geburtsmonats / Jahr quasi sehr früh eingeschult wurden.

Das überrascht nun nicht wirklich, oder ?

ADHS geht (in der Regel) mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Entwicklungsverzögerung um bis zu 30 Prozent einher. Die Kinder sind nicht weniger intelligent oder wissbegierig, freuen sich also auf den ersten Schultag. Aber sie weisen in wesentlichen Bereichen der frühkindlichen Entwicklung eine Reifeverzögerung in der Selbststeuerung bzw. auch in grundlegenden höheren Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen) des Gehirns gegenüber Gleichaltrigen auf. Das mag mal geringer ausfallen und durch intensivere Förderung der Eltern bzw. Intelligenz und Mehranstrengung über längere Hausaufgabenzeiten nicht so auffallen. Aber es kann eben auch ein Ausmaß annehmen, dass es dann zur Qual wird, weil die Kinder Schule nur noch mit Mißerfolg verknüpfen. Eigentlich aber genauso intelligent sind, wie die Mitschüler am Nebentisch.

Eine begabungsadäquate Beschulung ist dann nicht mehr gegeben.

Es scheint einen – mir völlig unerklärlichen – Trend dahin gehend zu geben, Kinder immer früher einzuschulen bzw. dann bereits in den ersten Klassen mit vergleichsweise komplexen Anforderungen an die Selbstständigkeit, Selbstorganisation und Handlungssteuerung zu konfrontieren. Sie sollen sich dann quasi mit dem ersten Schultag wie “kleine Erwachsene” benehmen können. Ich unterhalte mich immer wieder mit Kindergärtnerinnen, die davon berichten 20 und mehr Kinder in ihren Gruppen zu betreuen. Und die dann verständlicherweise gar nicht mehr in der Lage sind, genauer eine Förderung bzw. Reifebeurteilung von den Kids abzugeben, die sich vielleicht in der motorischen und psycho-sozialen Entwicklung noch nicht so wie ihre Spielkameraden verhalten können.

Große Gruppen im Kindergarten und volle Schulklassen in der Grundschule sind aber quasi “Gift” für Kinder mit Entwicklungs- und Lernbesonderheiten. Und natürlich ganz besonders für die Kinder aus dem ADHS-und Autismusspektrum. Hier schlägt die Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche zu, da die Kinder allein vom Lärm und den ganzen Reizen im Klassenzimmer schnell überfordert bzw. überreizt werden.

Umso schlimmer, wenn dann alle Jungs und Mädels über einen Kamm geschoren werden, eine differenzierte Beurteilung bzw. Förderung eben gerade in der Masse untergehen muss.

Eine Studie der Stanford Universität untersuchte nun (bereits diagnostizierte) Kinder im Alter von 4 bis 5 Jahren (vor der Einschulung) mit einer gesicherten ADHS-Diagnose im Vergleich zu “neurotypischen” gleichaltrigen Kindern in Hinblick auf die Schuleignung bzw. Fertigkeiten, die man in der Grundschule braucht. Die Kinder waren entweder noch in einem Kindergarten oder einer Vorschulklasse.

Es ging also um die Frage, ob die Kinder mit ADHS letztlich schon mit einem beträchtlichen Nachteil bzw. Rückstand in die Schule starten.

Nun ist es natürlich so, dass motorische Hyperaktivität bzw. Unruhe, mal impulsives Verhalten und natürlich auch Ablenkung bzw. Aufmerksamkeitsprobleme völlig normal bei Kleinkindern sein können. Und meistens wird dann von den Kinderärzten bzw. Kinderpsychiatern vergleichsweise “lange” gewartet, bis dann in der Schule die Probleme nur zu offensichtlich werden. Nach meiner persönlichen Erfahrung bei uns häufig dann erst, wenn in der 2. bzw. 3. Klasse nochmal die Anforderungen an eigenständige Planung und Ausdauer, aber auch Frustrationstoleranz und Emotionskontrolle deutlich zunehmen bzw. bereits eine gewisse Vorselektion in Hinblick auf die spätere Schullaufbahn erfolgt.

Wer sich etwas mehr mit dem Thema ADHS auskennt weiss, dass ADHS praktisch nie “allein” kommt. Weitere Entwicklungsprobleme in Hinblick auf die Sprech- bzw. Sprachentwicklung, motorische Fähigkeiten im Bereich der Feinmotorik bzw. Kraftsteuerung, Sehstörungen, aber eben auch begleitende Störungen im Bereich Dyspraxie (Koordinationsfähigkeiten), Dyskalkulie (Vorstellungsvermögen für Zahlenräume) bzw. Lese-und Rechtsschreibstörungen sind sehr häufig.

Vielleicht aber eben noch charakteristischer sind die emotionalen und sozialen Selbststeuerungsprobleme, bzw. Probleme das eigene Verhalten situationsangemessen und über einen längeren Zeitraum zu steuern bzw. den Anforderungen in einer Gruppe anzupassen.

Was untersuchten die Forscher bei den Kindern ?

Da die klassischen ADHS-Symptome ja nichts über die Funktionsfähigkeit bzw. Beeinträchtigungen im Alltag aussagen, geht es im wesentlichen um andere Bereiche, etwa

  • soziale und emotionale Entwicklung
  • Sprachentwicklung
  • Allgemeinwissen
  • kognitive Fähigkeiten
  • Höhere Handlungsfunktionen = Exekutivfunktionen (Approaches to learning = Grundfertigkeiten für das Lernen)

Es zeigte sich, dass die Kinder sich hinsichtlich der kognitiven Fähigkeiten/ Intelligenz bzw. Vorwissen / Allgemeinwissen nicht unterschieden. Wohl aber eben in Hinblick auf die anderen Bereiche mehr als eine Standardabweichung von den Mitschülern abwichen.

Wenn sie in 2 oder mehr Bereichen über eine Standardabweichung schlechter abschnitten, wurden sie als “nicht schulfähig” eingeschätzt

ADHS-Kinder haben schlechtere Startbedingungen in der Schule

  • Kinder mit einer ADHS-Diagnose hatten 73 mal mehr Probleme im Bereich der Exekutivfunktionen
  • 7 mal mehr Beeinträchtigungen in der sozialen und emotionalen Entwicklung
  • 6 mal häufiger Probleme im Bereich der Sprachentwicklung / Sprechen (Stottern etc)
  • 3 mal häufiger körperliche Probleme bzw. Besonderheiten im Bereich der motorischen Entwicklung

Die Autoren verweisen in dem Artikel darauf, dass es hier weniger um die klassischen kognitiven Fähigkeiten wie das Kennen von Buchstaben oder Zahlen, Mustern oder Farben geht. Hier werden sehr grundlegenden Fertigkeiten bzw. neuropsychologische Funktionen abgefragt, die eben bei neurodiversen Kindern “anders” sind.

Gerade die Bedeutung der ( von mir immer und immer betonten) Exekutivfunktionen ist bisher in Hinblick auf die Schuleignung bzw. Förderung von Kindern viel zu wenig untersucht bzw. in Therapieprogramme integriert.

Ein Gedanke zu „ADHS und Schulfähigkeit für die 1. Klasse

  • 02.08.2019 um 17:24
    Permalink

    ADHS-die-nicht-sein-darf-Krankheit
    Eine frühzeitige und wirksame Förderung von AD(H)S Kindern im Vor-bzw. Schulalter ist m.E, nur möglich, wenn Fachleute wie Erzieher-/innen, Kinderärzte und Grundschullehrer-/innen informiert und geschult werden, um dieser besonderen Art des Gehirns zu funktionieren, gerecht zu werden.

    Leider sah die Wirklichkeit im Jahr 2009, als mein Sohn mit 7 Jahren die Diagnose erhielt, ganz anders aus!

    Er bekam die Diagnose erst nach den Hinweisen seiner wunderbaren Lehrerin der 1.Klasse, die offensichtlich geschult war, um Aufmerksamkeitsprobleme erkennen zu können (erkennen, nicht diagnostizieren!!!!!!).

    Ohne sie hätte er die Diagnose wahrscheinlich nie oder viel später bekommen, denn weder die Erzieherin im Kindergarten noch der Kinderarzt waren vorher imstande, in dem turbulenten, trotzigen Kind ein Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität zu erkennen (und das trotz meiner zahlreichen Fragen).

    Wenn Erzieher und Kinderärzte besser über diese besondere Art informiert wären, könnte man diesen Kindern noch vor der Einschulung helfen und natürlich danach.

    Ganz schlimm für mich war die Aussage einer Kinderpsychologin in der Kinderpsychiatrie, die “ADHS für eine Modekrankheit” und “Ritalin für eine gefährliche Droge” hielt!

    Die Kinderärztin im sozialpädiatrischen Zentrum, die ihm Metylphenidat mit 9 Jahren trotz mittlerweile unauffälligen Konzentrationstests (dank eines erfolgreichen Konzentrainingstrainings) verschreiben wollte, konnte es nicht fassen. Ergo waren wir Eltern Schuld für die Verhaltensstörungen (oppositionelles Trotzverhalten) unseres Sohnes, die Lösung: Internat!

    Solange solche Vorurteile in den Köpfen von Fachleuten-insbesondere Kinderärzten und Kinderpsychiater-/Psychologen rumgeistern, solange werden diesen Kindern, die wie mein Sohn übrigens sehr intelligent sein können (er ist hochbegabt mit einem IQ von 148 im sprachlichen Bereich) nicht geholfen.

    Im Internat machte er übrigens das ganze Jahr über seine Hausaufgaben nicht, es hat niemand, weder Erzieher bei der Nachmittagsbetreuung noch Lehrer, interessiert. Im 2. Internat erfuhr ich, dass niemand ihm abends helfen wollte, das richtige Schulzeug in seinen Schulranzen zu tun. Er sei mit 13 Jahren schließlich groß genug, um sich selbst organisieren zu können. Es ist einfach nur zum K***..sorry!

    Ach ja.. was die Reifeverzögerung anbelangt. Meine Tochter, 2,5 Jahre jünger als mein Sohn, hat immer reifer gewirkt als ihr Bruder! Die 3 Jahre Verzögerung ist m.E. nur ein Durchschnitt, es gibt Kinder wie mein Sohn oder sein Cousin (ebenfalls ADHS), die m.E. n einen deutlich größeren Rückstand im Hinsicht auf die Exekutivfunktionen haben. Der Cousin meines Sohnes (schwere ADHS bei normaler Intelligenz, nicht behandelt, weil die Mutter die Behandlung abgelehnt hat) wäre mit 19 um ein Jahr aus dem Ausbildungsbetrieb rausgeflogen. Er war über s Wochenende ins Nachbarland mit Kumpels gefahren und ist erst am Donnerstag wieder zur Arbeit gegangen. Der Vater konnte den Geschäftsführer noch überreden, dem Jungen noch eine Chance zu geben, denn es waren nur 3 Monate bis zu den Abschlussprüfungen…

    Kinder mit ADHS brauchen m.E, eine möglichst frühe Diagnose, Behandlung und eine besondere Hilfe in der Schule, um mit den Aufforderungen des aktuellen Schulsystems, insbesondere in Hinblick auf die Selbststeuerung, das Planen, Organisieren zurecht zu kommen. Das können wir aber nur erreichen, wenn Vorurteile über ADHS bei Fachleuten und der allgemeinen Bevölkerung abgebaut werden und Fachleute geschult werden, um diese Kinder zu erkennen und ihnen effektiv zu helfen. Den Kopf in den Sand stecken hat noch niemandem geholfen. Kinder und Erwachsene mit ADHS leben nicht auf dem Mond, sondern unter uns und sie können, wenn ihre Störung rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird, zu leistungsbringenden Bürgern werden. Dafür muss ihnen diese Gesellschaft aber die Chance auch geben.

    Da der Cousin meines Sohnes beruflich nicht vermittelbar ist, arbeitet er seit Jahren im Betrieb seiner Eltern. Unser Sohn, der Metylphenidat nur 3 Tage bekommen hat (katastrophale Betreuung durch ignorante Assistenzärzte im SPZ..längere Geschichcte), hat zwar von dem Marburger Konzentrationsprogramm sehr gut profitiert, ab der 7.Klasse stiegen aber die Aufforderungen an seine exekutiven Funktionen über seine Kapazität hinaus. Daher waren auf ein mal 5 und 6 im Zeugnis. Das Internat hat leider seine Probleme nicht gelöst…

    Traurige Grüße einer ADHSlerin, die nur mit 2 x 20 mg Medikinet Adult pro Tag ihrem sehr anspruchsvollen Beruf (in Bezug auf die Exekutivfunktionen: Kurzzeitgedächtnis, Planen/Organisieren) nachgehen kann…

    Danke an Dr. P.A, der mir diese Chance zu einem beruflichen Neubeginn mit fast 50 gegeben hat!

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