„Immer früher und immer mehr …“ – nur warum eigentlich? (Teil III)
„Immer früher und immer mehr …“ – nur warum eigentlich?
Vielleicht haben auch Sie schon einmal gefragt, warum eigentlich von Kindern immer früher Selbständigkeit erwartet wird. Es gibt auf diese Frage sicher viele Antworten. Hier meine Überlegungen dazu:
Um zu verstehen, warum Kindern immer früher (und immer mehr) Verantwortung übertragen wird, kann folgende Frage weiterhelfen: Cui bono? Wer profitiert davon?
Die Kinder etwa? Davon habe ich bisher nichs gemerkt. Im Gegenteil. Viele sind überfordert und können den in der Schule an sie gestellten Anforderungen nicht genügen, weil viele von ihnen entwicklungspsychologisch gar noch nicht soweit sind. Also wem nutzt es dann?
Ob es uns passt oder nicht: Tatsache ist, wir leben in einer Gesellschaft, in welcher immer mehr Lebensbereiche durch marktwirtschaftliches Denken geprägt werden. Der Service publique (so nennen wir in der Schweiz den „öffentlichen Dienst“) und mit ihm das Kommunal-, Sozial- und Gesundheits-, Bildungs-, Informations-, Freizeit- und Kulturwesen erfahren im Zug des sich global ausdehnenden neoliberalen Wirtschaftssystems einen Prozess zunehmend marktwirtschaftlicher Ausrichtung.
Diese Vermarktlichung des Gesellschaftlichen wird von Sozialwissenschaftlern als Ökonomisierung bezeichnet. In erster Linie richtet man sich aus am wirtschaftlichen Ziel eines für die Leistungserbringer/-innen (und nicht etwa für den Kunden oder Dienstleistungsbezüger) möglichst optimalen Kosten/Nutzen-Verhältnisses. Rentabilität ist die oberste Devise.
Sozialwissenschaftler zeigten auf, dass die Ökonomisierung nicht haltmacht bei den gesellschaftlichen Institutionen: Grenzüberschreitend bemächtigt sie sich auch fern der Arbeitswelt (dies ist ja ihre ursprüngliche Domäne) und ausserhalb der öffentlichen Verwaltung ihrer Subjekte: Sie transformiert den Menschen immer mehr (und immer früher!) zum „homo oeconomicus“ (Wirtschaftsmensch), durchdringt und globalisiert die Grenzen des Privatlebens, infiltriert und verwertet zunehmend das Persönliche, das Psychische und das Zwischenmenschliche.
Viele Erwachsene in den Industrienationen erfahren es am eigenen Leib: Nur wer sich selbst verwirklicht, sich geschickt managt und als Unternehmerin und Unternehmer seiner selbst gezielt in sein Humankapital investiert (Schule, Berufsausbildung, Weiterbildung, Fitness, Hobbys), kann hoffen, der rasanten technischen Entwicklung und den Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt mithalten und sich als Arbeitskraft möglichst gut verkaufen zu können.
Heute werden Kinder durch die gesellschaftlichen Institutionen (Erziehung, Schule, Medienwelt) mehr denn je dahingehend sozialisiert, sich diesem System anpassen zu können. Dazu sollen sie in einem ersten Schritt möglichst frühzeitig befähigt werden, selbstverantwortlich auf dem Markt als Käuferin und Käufer in Erscheinung zu treten. Werbung vor, zwischen und nach Kindersendungen, ist dafür charakteristisch.
So stehen denn hinter dem Trend, Kindern immer früher immer Verantwortung aufzubürden, in letzter Konsequenz und eingebettet in einen neoliberalen Zeitgeist primär kommerzielle Motive. In einem immer jüngeren Alter weckt die Werbeindustrie Bedürfnisse. Die Befriedigung derselben, also „kaufen“ und sich gut fühlen, weil man etwas käuflich erworben hat und nun besitzt, soll für noch viel mehr Kinder zu identitätsstiftenden Erlebnissen werden. Heute sind manchmal schon Achtjährige derart selbständig, dass sie in der Lage sind, sich im Einkaufszentrum selbstverantwortlich ein Nike-Cap zu kaufen. Die Eltern sind stolz und die Unternehmer und Aktionäre freut’s.
Sind dies, werden sich einige Leser/-innen jetzt vielleicht fragen, nicht anachronistische oder gar fundamentalistische Sonntagabendgedanken einer Soziologen- und Psychologen-Generation mit Wurzeln in der 68er-Jahren? Und überhaupt: Ist es denn nicht zu begrüssen, wenn Kinder möglichst früh zur Selbständigkeit erzogen werden?
Meine Meinung dazu: Selbständigkeit: ja. Unbedingt sogar. Aber alles zu seiner Zeit. Und bitte nicht in Richtung „Puer oeconomicus“ (Wirtschaftskind).
Andere als die genannten Gründe, wieso man heute versucht, Kindern immer früher (und teils unter Missachtung entwicklungspsychologischer Gesetzmässigkeiten) beizubringen, Selbstverantwortung zu übernehmen, kenne ich keine.
Ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.
…ich kenne einen anderen Grund, habe dies selber mit meinen Kindern erlebt.
Der Impuls zu solchem Selbstständigkeits-Fördern ging weniger von der profitgetriebenen Konsumwirtschaft aus, als vielmehr – Überraschung! – von der 68er-Generation der Pädagogen.
Ich kenne einen der Pioniere dieser Reform-Schulbewegung in der Schweiz und die Schulreformen, die dadurch angestossen wurden. Ihr Credo bestand primär darin, dass Kinder einen Anspruch auf selbstbestimmtes Lernen haben und nicht mehr dem als altmodisch empfundenen Frontalunterricht von autoritären Lehrpersonen ausgesetzt bleiben sollten, wie Generationen Kinder vor ihnen.
Die individuelle Förderung, d.h., dass jedes Kind dort abgeholt werden soll, wo es gerade ist, war Kernmerkmal dieser Bewegung. In der Umsetzung erfolgte dies dann mit den Wochenplänen, die dann z.B. für langsamere Kinder angepasst wurden und weniger Stoff enthielten. Grosses Ziel war es, möglichst wenige Sonderklassen /-schulen mehr zu benötigen und auch schwierige bzw. leicht behinderte Kinder in die Regelklassen zu integrieren. Ein hehres Ziel, ging es doch darum, die entsprechenden Stigmatisierungen für diese Kinder zu umgehen.
Die Folgen, wie wir sie erlebt haben, haben mir gezeigt, dass die idealistischen Ziele kaum verwirklicht werden können; eine gesunde Mischung zwischen vermeintlich altmodischem Frontalunterricht und individueller Förderung der Kinder wäre wohl das beste.
Danke für diesen Hinweis! Auch wenn der schulpädagogische Selbständigkeitskult von Reform-Pädagogen der 68er-Generation initiiert wurde, ändert das wenig daran, unter welcher Flagge das Schiff in den letzten zwanzig Jahren fährt. Von den hehren Zielen eines selbstbestimmten Lebens blieb herzlich wenig übrig.