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Nein!

Müsste ich ein Wort bezeichnen, welches die ADHS am besten charakterisiert, wäre es „Nein“.

Nicht nur betroffene Kinder, auch Erwachsene mit einer ADHS, sind in ihrem Umfeld bestens bekannt als Nein-Sager: Will man etwas von ihnen, ertönt als Erstes oft blitzschnell: „Nein!“.

Warum ist das so? Neigen ADHS-Betroffene verstärkt zu Trotz? Nein. Es sind ganz andere Gründe:

  • Einer von zahlreichen Gründen liegt darin, dass sich ADHS-Betroffene nicht schnell genug auf das Gegenüber einstellen können (= Schwäche der Exekutivfunktion ‚Aufmerksamkeitswechsel‘). Sie fühlen sich vom Anliegen des Gegenübers überrollt bis erschlagen und rufen dann zum Selbstschutz „Nein!“. Ihr Hirn, sagen viele Betroffene, reagiere einfach zu langsam, wenn von Aussen ertwas unerwartet an sie herantrete.
  • Ein weiterer Grund für das „Nein!“ liegt darin, dass viele ADHS-Betroffene häufig zu spontan und zu schnell „Ja“ sagen (= Schwäche der Exekutivfunktion ‚Impulskontrolle‘; grosse Hilfsbereitschaft als Charakterzug vieler ADHS-Betroffener). Folgen zu vieler spontaner Zusagen auf Bitten/Anfragen anderer sind, dass sich die Betroffenen zu viel aufbürden und es nicht schaffen, alles wie versprochen zu erledigen. Dies wiederum erzeugt negative Rückmeldungen/Reaktionen anderer (z.B. Enttäuschungen*). Um sich nun von diesen schmerzhaften Folgen zu schützen, ist für einige ADHS-Betroffene aus dem spontanen „Ja klar!“ ein blitzschnelles „Nein!“ geworden.
  • „Nein!“ äussern ADHS-Betroffene bisweilen auch aus der Angst heraus, einmal mehr zu versagen. Sie schützen sich damit vor dem unangenehmen Schamgefühl.
  • Schliesslich zählt das spontane „Nein!“ von ADHS-Betroffenen aber zu deren positiven Merkmalen: Während dem viele lernen, „nein“ zu sagen und „ja“ zu denken (was sehr ungesund ist!), sind Menschen mit einer ADHS sehr ehrlich. Sie tragen das Herz auf der Zunge. Das „Nein!“ ist oft also sehr ehrlich gemeint.

Andere Gründe für das häufige und schnelle „Nein!“ von Menschen mit einer ADHS? Was meinen die Leser/-innen dazu?

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* Nicht wenige ADHS-Betroffene leiden sehr unter ihrem Ruf der Unzuverlässigkeit.

8 Gedanken zu „Nein!

  • Das meist geäußerte Wort des ADHSler lautet nicht „Nein“, sondern wie Cordula sehr richtig festgestellt hat: „Ja, aber…“ Im Endergebnis, das mag zugegeben werden, scheint es freilich annähernd auf dasselbe hinauszulaufen…

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    • Schon mal Kinder oder Jugendliche mit ADHS erlebt? Und „Ja, aber…“ gehört?

      Antwort
  • Ich kenne beides: Zu schnelles ja, zu schnelles nein. Ich habe die Diagnose ADHS im Erwachsenenalter erhalten. Die Idee mit dem Aufmerksamkeitswechsel (in meinen Augen auch so etwas wie mangelnde Umstellfähigkeit / Flexibilität) kann ich für mich nachvollziehen. Ich würde es gern noch anders ausdrücken: Was (bei mir) nicht zu klappen scheint, ist die Synchronisation, die geschmeidige Abstimmung zwischen innen (eigene Wahrnehmung, Wahrung eigener Interessen) und außen (die Wahrnehmung von anderen, deren Interessen). Die Erwartungen von anderen empfinde ich oft als bedrohlich, weil ich tatsächlich nicht so schnell umschalten, beides nicht in Einklang bringen kann. Auch tönt oft die Wahrnehmung von aussen oft zu „laut“ in meiner eigenen Wahrnehmung, lässt sich eben nicht ausblenden, filtern oder runterregeln. Womit wir bei ADHS als Reizfilterstörung wären. Diese gilt eben nicht nur für physikalische, sondern auch für soziale Reize…

    Antwort
  • Mir begegnet sowohl das (vor)schnelle Ja als auch Nein. Mir Bedenkzeit zu nehmen ist schwierig. Erst mal reagieren. Berufliches Burn Out ist mir bekannt.
    Das Nein ist kompliziert. Es mogelt sich vor allem in Diskussionen, in denen es um Einschätzungen geht. Nach jahrelangem Erleben, dass meine Wahrnehmung anders als die der anderen ist, und zwar eher die „unzutreffende“, habe ich diesbezüglich ein vor Vereinnahmung schützendes Nein verinnerlicht, das ich dann auch ausspreche. Das ist nicht sehr hilfreich, wenn man sich mit Menschen auseinander setzen möchte.
    Natürlich kann ich oft meine Wahrnehmung anderen theoretisch nicht vermitteln. Und doch gibt es viele Situationen, in denen sich letztlich in der Praxis andere auf meine Wahrnehmung verlassen. Ich arbeite in einem politischen Kontext, bin oft in Situationen, die sich nicht an das am grünen Tisch geplante halten.
    Dennoch: weniger Impulsivität, weniger pauschalen Schutzwall – daran arbeite ich sein Jahren.

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  • Ich neige eher zu unbedachten Jas, grade beim Freunde treffen oder Gefallen, auch bei der Arbeit, denk ich nicht, sondern sag zu. Passiert ja dann was Neues. Und schnell komm ich durcheinander, hab mir zufiel zeitlich aufgeladen, bekomm Zeitnot und muss liebe Menschen versetzten oder vergesse manche Sachen/Termine. Das vorbeugende Nein muss ich wohl erst noch lernen. Eher nein sag ich tatsächlich, wenn man mich zu aprut von der Seite erwischt, stimmt. Ist mir noch nie aufgefallen. Komme da tatsächlich manchmal nicht hinterher gedanklich. Dann mach ich schlagartig dicht. Danke für den kleinen Artikel. Hab dadurch was Neues erkannt. 🙂

    Antwort
  • Das spontane „Nein“ kenne ich nur zu gut. Oft ist es ein Selbstschutz vor allem darum, weil ich mich nicht mal so eben schnell entscheiden kann. Ein „Nein“ (manchmal sogar schon nur eine Sekunde) später in ein „Ja“ umzuwandeln ist überhaupt kein Problem, ein „Ja“ zurückzunehmen hingegen schon.

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  • Lieber Marcus,

    es sollte kein „leider“ am Hinterkopf kleben.
    Mein Sohn hat ADS vom Typ „Tagträumer“. Alle seine Freunde wissen, dass er ihnen helfen möchte, und die meisten haben inzwischen kapiert dass es nicht am Interesse scheitert, sonder an der Unfähigkeit die notwendigen Dinge zu planen. Glauben Sie mir, Ihre Mitmenschen wissen sie trotzdem zu schätzen. Wer sie wirklich mag wird sie verstehen und was der Rest denkt kann Ihnen egal sein. Wichtig ist nur, dass sie den Überblick über ihr Leben nicht verlieren.
    Mein Mann und ich haben uns lange Jahre gegen Medikamente entschieden und dadurch hat unser Sohn viele Fehler, oftmals die Gleichen, gemacht. Das Leben war echt schwierig für ihn aber er hatte immer unsere Liebe und sehr viel Rückhalt in unserer Familie. Ich merke oft, dass es ihn selbst belastet die Erwartungen anderer Menschenerfüllen zu müssen. Ich selbst hatte für ihn oftmals Mindestziele gesetzt. Ein Schulabschluss, eine Berufsausbildung, ein Arbeitsplatz. Kein Hochschulabschluss, kein Studium, kein Top-Job. Er hatte viele Stolpersteine auf dem Weg zu diesen Mindestzielen. Fürterliche Klassenkamerade (drei Schulwechsel), einen fürterlichen Ausbildungsplatz, eine drohende Entlassung beim neuen Arbeitgeber (zu langsam, schlechte Planung). Trotdem sage ich ihm sehr oft, dass ich stolz auf ihn bin. Sein Leben muss nicht perfekt sein, er muss damit zufreiden sein. Diese Zufriedenheit kann er nur erreichen wenn er nicht ständig das Gefühl hat unzulänglich zu sein. Und das sollten Sie auch nicht haben. ADS´ler sind anders, aber gerade deshalb, meist sehr liebenswert, wenn man sie besser kennt. Sagen sie bei der nächsten Frage nach Hilfe einfach gar nichts, so enttäuschen sie die anderen nicht und um wenigsten sich selbst. Übrigens Sie haben am Ende des Tages, vielleicht nicht in den Augen der anderen,aber doch für sich selbst die richtige Wahl getroffen, sie können nur die treffen, die sie getroffen haben, sonst hätten sie vielleicht eine andere Wahl getroffen. Lernen sie sich nicht so viele Aufgaben zu stellen und halten sie ihren Terminkalender sauber.

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  • Moin Moin,

    ja, da erkenne ich mich in einigen Teilen wieder …

    Besonders in dem Teil, in dem der ADS’ler, dank seiner angeborenen Hilfsbereitschaft, spontan ja sagt, denn er *will* ja helfen, gerne sogar.

    Aber neben der unbedachten, spontanen Reaktion ja zu sagen, ist es auch sein Problem mit der Zeit, welche ihm nicht zu eigen ist.

    Zwar habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, um was ich gebeten wurde, aber eine *genaue* Vorstellung vom Zeitaufwand, mit all dem was dazu gehört (Anfahrt, Komplikationen, Rückfahrt usw), fehlt mir.
    Kein Wunder, setzt dies doch eine Exekutivfunktion höherer Art voraus, nämlich komplexe Zeitabläufe zu planen/ koordinieren/ sich vorzustellen.
    Das gehört aber zu den Dingen, die er nicht kann.
    Je komplexer es wird, desto schwieriger bis unmöglich wird es.
    Mehr als drei Termine im Kalender und ich verliere vollends den Überblick.

    Und schlimmer noch: Je weiter der Zeitpunkt in der Zukunft liegt, an dem die Hilfe erwiesen werden soll, desto weniger hat der ADS’ler sie auf dem Radar und ist sich nicht mal ansatzweise darüber im Klaren, ob und wie er das überhaupt managen kann.
    Es ist für ihn weder greifbar noch vorstellbar.
    Also sagt er „Ja,“ um am Ende, je näher der Termin rückt, dazustehen und zugeben zu müssen, dass er sich maßlos verschätzt hat und vollkommen überfordert ist.
    Also sagt er, „Es tut mir leid, ich schaffs nicht, ich bekomms nicht hin“.

    Klar, dass ihm das keiner glaubt, schon gar nicht, wenn es es immer wieder kommt.
    Schließlich hatte ich die Wahl, habe es rechtzeitig gewusst, hatte doch genug Zeit, es zu planen und vorzubereiten (allein zu glauben, dass es einem ADS’ler hilft, wenn man ihm mehr Zeit gibt … das ist wie einem Farbenblinden Texte in grelleren statt pastellenen Farben zu markieren … anyway, nicht abschweifen …), also war es mein Versagen, mein Fehler und offensichtlich Desinteresse an den betreffenden Menschen, denn wenn sie mir wichtig wären, hätte ich das schon hinbekommen.

    Dabei sind ihm komplexe Zeitplanungen gar nicht möglich, er sieht die Zeit nicht, fühlt sie nicht, sie ist nicht seine Welt, nicht Teil seiner Welt.
    Auch wenn viele Therapeuten etwas anderes sagen und den ADS’ler ins Achtsamkeitstraining schicken, er lebt im Hier und Jetzt und eben nicht in der Zukunft, sie ist ihm fremd.
    (Natürlich ist mir klar, dass die Achtsamkeitstrainings auf etwas anderes abzielen, dem *bewussten* Leben im Hier und Jetzt … ich sehe da aber eben jenen Unrterschied.
    Es ist etwas anderes *bewusst* am Hier und Jetzt teilzuhaben und nicht mit meinen Gedanken an tausendfach anderen Orten zu sein, verglichen mit dem „sachlichen Hier und Jetzt, welches Zeitverständnis voraussetzt ;-)) )

    Aber ich fürchte, das mit dem „Nein sagen“ habe ich noch nicht ganz hinbekommen.
    Wenn es drauf ankommt, siegt jedesmal aufs Neue der Wille und der Wunsch zu helfen und das Ja rutscht heraus.
    Und wie immer endet es im Dilemma.
    Ganz so, wie am Ende des Tages eines ADS’lers immer und immer wieder der Streß aufkommt, weil der ganze Tag plötzlich zu Ende ist und noch so viele Aufgaben zu erledigen sind, die ich voll aus dem Fokus verloren habe, obwohl ich doch die Wahl hatte zu entscheiden, was ich tun solle … und Zeit war genug da …

    Eine tibetanische Gebetsmühle.
    Etwas, das typisch ist für ADS’ler, … ADS ist kein Mangel an Wissen … sondern ein Mangel das Wissen umzusetzen, eine Störung der Exekutivfunktion.

    Ja … und am Ende hat man den Ruf, unzuverlässig und faul zu sein, denn man hatte ja die Wahl.

    Aber das mit dem Nein-Sagen … lässt sich das wirklich üben?

    Ansonsten:
    Ja, .. ich erkenne mich in Ihre Schilderung wieder … vielleicht mit einem kleinen „leider“ im Hinterkopf.

    Viele Grüße
    Marcus

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