ADHS-Therapien auf dem Prüfstand
Während eine mehr oder weniger sinnfrei in den Raum gestellte Behauptung der Barmer-GEK zur Überverordnung von Stimulanzien bei ADHS rauf und runter zitiert wird, wird wenig über die reale Versorgungssituation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS-Spektrum-Störungen geredet oder geschrieben.
Nun ist es ja einerseits blödsinnig, anzunehmen, dass Methylphenidat eine Erziehung ersetzen oder Schulanforderungen ändern könnte. Aber genauo naiv ist es, die Existenz und Auswirkungen von ADHS zu leugnen oder darauf zu setzen, dass sich die Probleme von ganz allein lösen.
Ich beschäftige mich derzeit intensiver mit Publikationen von Prof. Christopher Gillberg aus Schweden, der neuropsychiatrische Störungen im Alter von 0-5 Jahren untersuchte und eine Art Screening bzw. Frühdiagnostik (ESSENCE) für eine ganze Reihe von Problembereichen definiert hat. Schlicht und ergreifend, weil eben die neuropsychologischen Besonderheiten und Auswirkungen auf die Entwicklung sich schon sehr früh in Form von Regulationsstörungen, Schlafproblemen, Sprach- und Sprechstörungen und dann eben auch Auswirkungen im Bereich Frustration und Selbstkontrolle bzw. Stimmungsstabilität zeigen.
Diese Auffälligkeiten verändern sich eben nicht von allein. Sie lassen sich aber auch nicht dadurch erklären, dass die Eltern nur schlechte Eltern wären oder aber der sogenannten Unterschicht angehören.
Was aber auffällig sein könnte ist doch der Fakt, dass nicht allen Eltern der Zugang zu Diagnostik und Therapie möglich ist. Hier haben speziell Alleinerziehende Probleme, überhaupt die Termine auf die Reihe zu bekommen. Noch dazu könnte es sein, dass eben etliche propagierte “nicht-medikamentöse” Therapie nur gegen Cash gemacht werden (beispielsweise Neurofeedback).
Nun setzt sich eine aktuelle Studie mit der Effizienz der nicht-medikamentösen Behandlungen einschliesslich kognitiver Trainings des Arbeitsgedächtnisses, Verhaltenstherapie bzw. Verstärkersysteme, Diäten und anderem “Schnick-Schnack” auseinander. Siehe hier.
Ich will nicht-medikamentösen Therapie nicht verteufeln oder Eltern davon abraten. Aber wirksam sind sie eben gerade NICHT. Das zeigen dann die Meta-Analysen, die besonders die doppelblinden Studien einschliessen.
Natürlich hofft und glaubt man seitens der Ärzte und der Eltern, dass es Alternativen zur Medikation geben könnte und müsste. Die Wissenschaft weist aber zumindest derzeit eher darauf hin, dass die Stimulanzientherapie der Goldstandard (= beste Wirksamkeit) aufweist. Und es eben fragwürdig ist, zunächst die Kinder mit allen möglichen und unmöglichen “Therapiealternativen” zu quälen, nur weil die Barmer GEK meint, dass Methylphenidat falsch sei.
Wir brauchen differenzierte Frühdiagnostik und Frühförderung für die Kinder und Familien. Wir brauchen Medikamente für die Kinder, die davon profitieren. Und wir brauchen ganz sicher keine Krankenkassen und selbst ernannte Meinungsmacher aus der Welt der Schreiberlinge, die sich eben nie wirklich mit sonderpädagogischen Fragestellungen bzw. neuropsychiatrischen Störungen beschäftigt haben.
Nachdem wie sämtliche Online-Medien bei der Berichterstattung mitgezogen und voneinander abgeschrieben haben, anstatt die polemischen Äußerungen ausgewogen zu recherchieren habe ich kein Vertraun mehr generell in die Online-Berichterstattung von : Spiegel, Die Welt, Süddeutsche, FAZ und Zeit. Auch die Print-Süddeutsche hatte den Barmer Vize auf der Titelseite und ein ‘Meinungsstück’ von Guido Bohsem auf Seite 4 mit dem ‘hilfreichen’ Rat gegen Über-Verschreibung: die Eltern sollten vielleicht mal selber so eine Tablette nehmen, dann würden sie ja schon merken was für potente Mittel sie ihren Kindern geben. Wahnsinn. Ignoranz, Hetze und total unfreiwillige Ironie in einem (tritt eine familiäre Häufung auf, hilft ja das Medikament sogar manchmal einem Elternteil- die Eltern selbst sind also manchmal sowieso schon selbst mit dem Medikament vertraut. Natürlich wirkt es nicht einfach “gleich” bei allen, so einfach “ausprobieren” könnte man es also gar nicht etc, etc, etc.). Das alles würde er wissen, und gar nicht auf die Idee kommen so etwas zu schreiben, wenn er sich mit dem Thema überhaupt auseinander gesetzt hätte. Wie uninformiert kann man nur sein?! Warum klappen angeblich seriöse Zeitungen auf Bild-Zeitungsniveau bei dieser Frage und schreiben so etwas zusammen?
Es war wirklich sehr hilfreich folgenden Blog-Post über eine frühere Folge von Medienberichten zu lesen und die Stellungnahmen zu lesen. Vielen Dank für’s posten! Bei der Regelmäßigkeit in der wohl immer wieder in größeren Abständen Ritalin- und ADHSbashing betrieben wird und bei der freien Verfügbarkeit anderer fachlicher Informationen und Stellungnahmen kann ich solche Zeilen in der Presse nun noch weniger verstehen -wenn das überhaupt noch geht! http://adhsspektrum.wordpress.com/2012/03/13/adhs-ist-keine-modeerscheinung/
Sehr interessanter, ausgewogener Artikel von C.Weber bei Süddeutsche Online. Gut geschrieben. Ebenfalls ein weiters Interview und ein Artikel zu Methylphenidat vs. Alternativen die so weit ich das einschätzen kann den gegenwärtigen wissenschaftlichen Stand zu reflektieren scheinen.
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/debatte-um-adhs-wie-stark-darf-der-philipp-zappeln-1.1589495
Das ist das Kernproblem meines Erachtens allgemein in der Medizinischen Versorgung psychiatrischer Probleme. Die Altlasten einer Un-Kultur der Schuldzuweisung bzw. Unterstellung von Moralversagen und damit die Verleumdung der Betroffenen als Faul, unwillig, verspielt und dergleichen mehr und eine undurchsichtige Interessenlage Motivlage der Beteiligten Parteien und deren eigener externalisierten Psycho-Sozialen Störungen die sie dann an Betroffenen abarbeiten und ihnen weiterhin das Leben schwer machen sind jedenfalls nicht förderlich.
Die mangelhafte Versorgung ist für mich jedenfalls offensichtlich. Seit nun über 10 Monaten warte ich auf einen Termin zur ADHS Diagnostik. Einziger Vorteil ich kann kompetent den Test begleiten und meine eigene Diagnose immer besser selbst kommunizieren. Bis dahin bringt mir die Zeit für Psychoeducative Maßnahmen nur wenig, denn die Motivationsdysfunktionalität und die Stimmungsschwankungen, Antriebsstörungen sind, für mich, nicht willentlich steuerbar. Sie kommen wie sie wollen und man wird wie das Gras im Wind herumgeworfen. Da hilft kein IQ kein Wissen keine Kompetenz gar nichts. Medikation würde höchstwarscheinlich helfen, aber eine vorübergehende Therapie wird weder von Hausärzten noch von Fachärzten durchgeführt.
Möglicherweise liegt es zum Teil am deutschtümelnden Ethos der sich noch jederzeit im Leiden suhlt, anstelle dem Frohsinn Raum zu geben. In diesem Sinne: Medikamente damit es diese Versager leichter haben? Offensichtlich nicht in Deutschland. Die Folgekosten sollte die Barmer mal berechnen, das kann man von einer Krankenkasse erwarten, nicht die viel günstigere medikamentöse Therapie mit langjährig für gut befundenen Medikamenten torpedieren.
Ich für meinen Teil sehe mich möglicherweiser wieder eines (aktiveren) Lebensjahres beraubt, weil die medizinische Betreuung ihren Aufträgen und Daseinszweck nicht erreicht. 1 Jahr längere Arbeitslosigkeit, ein Jahr länger Hartz4, ein Jahr länger mangelhafte Perspektive am Arbeitsmarkt, Chancen vergehen weil die höchstwarscheinlich hilfreiche medikamentöse Therapie verweigert wird.
Nicht sehr erbaulich das Ganze :-/
Vielen Dank für Ihren Beitrag und den link zur Studie!
Ironischerweise scheint der Barmer der Goldstandard der Medikation bei ADHS bekannt zu sein, denn es ist laut Betroffenen-Kommentaren die einzige Therapieform die sie erstattet…
Besonders gemein finde ich die sehr polemisch wirkenden Statements des Barmer Vizes zur Häufigkeits-Studie. Gibt es denn Untersuchungen dazu wie Methylphenidat bei Kindern wirkt die keine ADHS-bezogenen Schwierigkeiten mit dem Gehirnstoffwechsel haben? Gibt es überhaupt Grund zu der Annahme, dass mit diesem Wirkstoff irgendwelche sogenannten “Erziehungsmängel” -was für welche?-ausgeglichen werden könnten? Wie kann er einfach so etwas sagen ohne überhaupt irgendwelche Beweise?!
Auch verstehe ich die in den Medien zitierte Hochrechnung der Studie nicht. Süddeutsche Zeitung und andere schreiben: Die Diagnoserate habe sich auf 4,2% aller Kinder-und Jugendlichen erhöht. ‘Hochgerechnet’ bedeute dies 25% aller Männer und jede zehnte Frau erhielten einmal im Leben die Diagnose. Weder durch die Addition der Kinder&Jugendgenerationen im Erwachsenenalter noch durch die als minimal bezeichnete Erwachsenendiagnoserate kann ich mir diesen Hochrechnung erklären. Vielleicht stehe ich ja auf dem Schlauch ?
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/barmer-report-zum-zappelphilipp-syndrom-krankenkasse-warnt-vor-generation-adhs-1.1586118
Ganz klar, wir brauchen Medikation und gesellschaftliche Akzeptanz dafür. Mindestens ebenso dringend aber brauchen wir Familien (Geschwister eingeschlossen!), die den ADHSler so lieben, ertragen und wertschätzen, wie er ist. Ein solches Familienklima zu schaffen und auch in stürmischen Zeiten zu erhalten, ist ungeheuer viel Arbeit für die Eltern. Bei Null Unterstützung.