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ADHS Stimulanzien plus Memantine und Exekutivfunktionen

Vor mehreren Jahren habe ich ausprobiert, ob Memantine (als Ebixa bzw. Axura) bei ADHS-Erwachsenen eine Wirkung hat. Hintergrund waren positive Berichte, die u.a. vom ADHS-Experten Dr. Droll in Berlin kamen.  Ich nehme regelmässig (na ja, ich bemühe mich) an Treffen eines ADHS-Expertenkreises des ADD-Forum Berlin u.a. um Corrie Neuhaus teil, wo solche Tipps halt aus der Praxis weiter gegeben werden.

Die Grundidee ist, dass mit Memantine gerade die so wichtige Emotionsregulation und Selbststeuerung verbessert werden kann.

Memantine ist eigentlich ein „uraltes“ Medikament, das schon früher u.a. bei Spastiken, aber auch kognitiven Einschränkungen aller Art erfolgreich eingesetzt wurde. Dann wurde es von heute auf morgen vom Markt genommen, um nur einen Tag später für Mondpreise als „Wundermittel“ gegen Alzheimer-Demenz neu aufgetischt zu werden. Soweit so gut – oder schlecht.

Nun ist der Wirkmechanismus  von Memantine  ein völlig anderes Neurotransmittersystem (NMDA Rezeptor Agonist mit Wirkung auf Glutamat und Dopamin). Theoretisch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass dies sich besonders im präfrontalen Kortex des Gehirns bei ADHS als relevant herausstellen könnte.
Zum Thema ADHS war aber lange Zeit wenig zu erfahren. Es gab – soweit ich mich dunkel erinnere – einige positive Anwendungsberichte und auch eine Studie. Aber eben kaum nennenswerte Ergebnisse. Nicht zuletzt wohl auch, weil Memantine in den USA kaum / nicht bekannt war. Jedenfalls erkläre ich es mir so. Für den deutschen Markt war die Zielgruppe im Vergleich zu der Demenzflut halt zu unbedeutend. Ich hatte da mal bei den Herstellern nachgefragt, aber nichts näher erfahren.

Um ehrlich zu bleiben : Überzeugt hat imich damals die Anwendung überhaupt nicht. Ich habe damals allein und in der Kombi mit einem Methylphenidat Memantine in einer Dosis von maximal 10 mg morgens und 5 bis 10 mg mittags eingesetzt. Aber so richtige Effekte waren mir irgendwie nicht aufgefallen. Meinen Patienten auch nicht, aber es war eben nur eine sehr kleine Gruppe und auch überhaupt nicht systematisch. Und wir waren wohl damals eher auf Konzentration und auf Unruhe in der Beobachtung aus, weniger auf die für mich heute relevanteren Funktionen der Selbstregulation und Selbststeuerung im Alltag. Ich hatte irgendwie gehofft, dass die affektive Labilität bzw. Emotionsregualtion besser werden könnte. Gemessen am hohen Preis (und den für mich in der Klinik verbundenen Rechtfertigungsproblemen für eine solche off-off-off-label Indikation) lohnte es sich ganz einfach nicht.

Nun stosse ich heute zufällig auf eine Pilotstudie der Arbeitsgruppe von Joseph Biederman.  Biederman hat nun einen Ruf, einerseits einer der „Päbste“ in Sachen ADHS zu sein. Aber er ist halt auch in gewisser Weise eine Art „Pharma-Hure“, d.h. seine Studien sind immer sehr dicht (auch finanziell gesehen) an der Pharmaindustrie dran. Also ist da wohl doch auch Vorsicht angesagt.

Die Arbeitsgruppe untersuchte nun 34 (nicht gerade die Welt) Erwachsene zwischen 18 und 57 Jahren mit einer gesicherten ADHS-Diagnose.

Was mir sehr gut gefällt : Es werden nicht mehr nur blöde ADHS-Checklisten bzw. Symptomskalen zur Bewertung herangezogen, sondern eine Beurteilungsskale für die sogenannten Exekutivfunktionen des Gehirns (hier die relativ häufig verwendete BRIEF-A = Behavior Rating Inventory of Executive Funktions-Adult).

Mit diesem Beurteilungsinstrument werden 9 Bereiche der höheren Handlungsfunktionen näher beschrieben. Ich weiss nicht, ob es zwischenzeitich eine deutsche Version für Erwachsene gibt.

1. Inhibition (Inhibit) 8 Items

Aussagen zur inneren Bremse bzw. Impulsivität. Es geht also darum, ob man das eigene Verhalten situationsangemessen bremsen und regeln kann

2. Wechsel (Shift) 6 Items

Hier sind Fragen zum Themenbereich Wechsel von Situationen und Umgang mit Veränderungen bzw Flexibilität bei Problemlösungen oder aber Erwartungen summiert

3. Emotionale Selbstkontrolle 9 Items

In diesem Frageblock geht es um die emotionale Abhängigkeit der Anwendung von Wissen bzw. Umsetzung in der Praxis. Also auch der Fähigkeit die eigenen Gefühle und eben auch Frust ohne Wutausbrüche oder innere Blockaden zu regulieren.

4. Selbst-Beobachtung (Self-Monitor) (6 Fragen)

Diese Fragen beziehen sich auf zwischenmenschliche Aspekte, also die Fähigkeit sich selber zu beurteilen und eine Perspektivenwechsel vornehmen zu können.

5. Selbstaktivierung (Initiate)

Ein weiterer Problembereich ist die Fähigkeit eine Aufgabe oder Aktivität zu beginnen und dann Handlungen und Problemlösestrategien auch tatsächlich anzuwenden und „in die Gänge zu kommen“

6. Arbeitsgedächtnis (8 Items)

Um im Alltag klar zu kommen, muss man quasi Wissen „im Kopf haben“ bzw. abrufen können, wenn man es gerade braucht. In der Subskala Arbeitsgedächtnis geht es also besonders um mehrschrittige Handlungen und die Frage, ob man „mittendrin“ in einer Aufgabe vergessen hat, was man eigentlich tun sollte / wollte

7. Planung und Organisation (10 Fragen)

In diesem Fragen geht es um die Frage, ob man aktuelle und zukünftige Aufgaben im Blick hat und auch abschliessend erledigt. Hier spielt das sog. prospektive Gedächtnis eine Rolle. Also die Fähigkeit sich an eine Aufgabe dann zu erinnern, wenn sie auch umgesetzt werden sollte.

8. Fehler-Kontrolle und Korrektur (Task Monitor) (6 Fragen)

Schafft man es im Verlauf eines Problemlöseprozesses eigene Fehler und „Sackgassen“ zu erkennen und dann flexibel einen neuen Lösungsweg einzuschlagen ? Oder bleibt man halt stur auf seinem Weg, der in das Verderben führt. Hier geht es also um die Fähigkeit, quasi aus der Vogelperspektive sein Verhalten zu reflektieren und zu korrigieren.

9. Ordnung von Arbeitsmaterialien ( 8 Items)

in diesem Bereich des Fragebogens geht es um die Frage, ob man eine ausreichende Ordnung bzw. Überblick über Materialien und Gegenständen im Alltag hat oder ständig am Suchen ist.

Wenn man sich also diesen Fragebogen zur Alltagsbewältigung bzw. der Handlungsfunktionen anschaut, so wird schon ein ganz guter Einblick in die Funktionsfähigkeit im Hier und Jetzt des Lebens gegeben.

Dabei werden noch 2 Summenskalen gebildet, d.h. einige Skalen zusammengefasst. Dann teilt die Auswertung noch auf zwischen der sog. „Bevhavioral Regulation“ = Handlungsregulation (Inhibition, Wechsel, Emotionale Kontrolle, Selbstbeobachtung) und dem Metacognition Index (Selbstaktivierung, Arbeitsgedächtnis, Planung, Fehlerkontrolle, Ordnung). Das ist aber eher hier von untergeordneter Bedeutung.

Zusammengefasst : Ein gutes „Messinstrument“ für die Auswirkungen von ADHS-Problemen der höheren Handlungsfunktionen im Alltag und sicher besser geeignet als die Beschreibung von Aufmerksamkeit, Impulsivität und motorischer Unruhe in den üblichen ADHS-Skalen.
Die Teilnehmer erhielten nun randomisiert entweder 12 Wochen von Memantine oder eben Placebo gemeinsam mit dem Psychostimulans Concerta (R). Einer der Teilnehmer war schon zuvor stabil auf ein Dextroamphetamin eingestellt, was beibehalten wurde.

Für die finale Auswertung konnten noch 26 Teilnehmer eingeschlossen werden, davon erhielten 14 Memantine. Nochmal zur Erinnerung : Auch in der „Placebo-Gruppe“ erhielten die Studienteilnehmer ja das Concerta weiter.

Stark zusammengefasst ergaben sich bei 60 Prozent der Studienteilnehmer der Memantine Gruppe gegen 20 Prozent der „Placebo“-Gruppe  deutliche Verbesserungen im BRIEF-A-Gesamtscore bzw. einer klinischen Fremdbeurteilung anhand des klinischen Eindrucks.

In der Auswertung zeigten sich jetzt in dem von mir oben erwähnten Bereich der „Behavioral Regulation“ = Verhaltenssteuerung Vorteile, wenn zum Methylphenidat auch Memantine gegeben wurde. Die Kontrollgruppe mit Placebo zeigte dagegen besonders Ergebnisse im Bereich „inhibition“ und Ordnung von Arbeitsmaterialien.

In der Diskussion gehen nun Biederman und Kollegen davon aus, dass unter der Ergänzung mit Memantine sich eine Verbeserung der Regulationskontrolle über Emotionen und Verhalten ergab. Die Teilnehmer wirkten so flexibler bzw. hatten eine bessere emotionale Selbstregulationsfähigkeit.

Interessant.

Nun muss man sich klar machen, dass es eine sehr kleine Studie ist. Eine Pilotstudie halt. Für mich persönlich stellt sich auch die Frage, welchen Einfluss die Concerta-Therapie allein auf die Exekutivfunktionen hat. Ich habe im Rahmen von ADHS-Behandlungen eine ähnliche Diagnostik gemacht und dabei festgestellt, dass Methylphenidat sehr wohl die genannten Bereiche der Selbstregulation und Selbststeuerung ganz nachhaltig verändert. Aber eben nicht in allen Bereichen gleichmässig und längst nicht bei allen Patienten im gleichen Umfang.

Es ist also dann spannend zu schauen, ob man das mit einem weiteren Medikament oder aber nicht besser über einen anderen Umgang mit den Besonderheiten der Exekutivfunktionen erreicht. Also etwa über Coaching, Hilfsmittel wie Planer und Timer etc.

Aber egal. Immerhin gefällt mir die Studie sehr gut, weil sie eben auch die Höheren Handlungsfunktionen in den Mittelpunkt stellt.

Was mir (derzeit) nicht so gut gefällt : Gerade bei Kindern ist derzeit eine Art „Ausprobierwahn“ mit der Kombination von verschiedenen Medikamenten zu beobachten. Stichwort : Intuiniv (R) in Kombi mit Methylphenidat bzw. eben auch ggf. Kombi von Strattera mit Stimulanzien, Stimulanzien mit Risperdal und und und.

Die Kombiation von Medikamenten ist aber nicht ohne. Es kann zu erheblichen Interaktionsrisiken der Medikamenten untereinander kommen. Und möglicherweise eben dann auch zu einer falschen Einschätzung der Medikamentenwirkung, wenn man es nur an „äußeren“ Verhaltensmerkmalen wie Störverhalten, Konzentration und Unruhe festmacht.

Wenn, müsste man eben die Exekutivfunktionen und Selbstmanagementfähigkeiten stärker in den Mittelpunkt der Beobachtungen stellen. Dazu fehlt es aber an einer Grundidee der meisten Kinder- und Jugendpsychiater (und natürlich noch stärker der Erwachsenenpsychiater) WAS das eigentlich ist und um was es eigenltich bei ADHS gehen müsste.

Zur Anwendung von Memantine werde ich mich wohl in absehbarer Zeit nicht durchringen können. So schön mir die Studie gefällt, so wenig überzeugt mich Memantine bisher. Ich wäre aber durchaus an anderen Erfahrungen von Anwendern interessiert.

Die Studie „Memantine in the Treatment of Executive Function Deficits in Adults with ADHD : A Pilot-Randomized Double Blind Controlled Clinical Trial“ wurde in der Februar-Ausgabe des Journal of Attention Disorders veröffentlicht.

Ein Gedanke zu „ADHS Stimulanzien plus Memantine und Exekutivfunktionen

  • Interessant. Axura war eines der Mittel, die mein Arzt mir vorgeschlagen hatte, bevor wir dann irgendwann doch bei MPH gelandet sind, weil alles andere nix taugte. So eben auch Axura nicht. In Kombination hatten wir es aber nicht versucht. Ist nun auch schon über 11 Jahre her.

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