ADHS und Bildschirmmedien (Teil 16)
Fernsehen vs. Lesen
Im weiteren Gesprächsverlauf kamen wir dann auf das Thema „Lesen“ zu reden. Eric und Jan lasen nie freiwillig. Ich zeigte den Eltern auf, dass viele Kinder, welche zu viel fernsehen, an mentaler Fantasiekraft verlieren (oder diese gar nicht aufbauen können, wenn der TV-Konsum schon in der Vorschulzeit die Hauptbeschäftigung der Kinder war).
Grund dafür ist, dass am TV alles fix und fertig präsentiert wird. Bild, Ton und eine meistens sehr simple Story werden in einem Guss serviert. Das Gehirn muss nicht aktiv werden. Es wird – wie man so schön sagt – angenehm berieselt oder eben „eingelullt“.
Beim Lesen ist es komplett anders: Der Sinn des Gelesenen erschliesst sich einem nur, wenn man sich das, was man gerade liest, auch vorstellt, wenn das Gehirn also aktiv ist und Bilder zum Gelesenen produziert und diese zu einem „inneren Film“ verknüpft. Für viele von Ihnen mag dies eine Selbstverständlichkeit sein. Für immer mehr Schülerinnen und Schüler ist es das leider nicht.
Viele der medienüberfluteten Kinder „sehen“ einfach nichts, wenn sie versuchen, zu lesen. Sie haben es schlicht und einfach nicht ausreichend lernen können, sich selbst Sachen auszudenken und sich diese vor dem inneren Auge auszumalen. Dies unter anderem, weil ihnen der Zeitfresser TV die Möglichkeit raubte, reale Erfahrungen mit realen Dingen und Abläufen zu gewinnen.
Beim normalen Spielen mit dem Puppenhaus, mit Lego, mit Spielzeugautos und beim Basteln mit Holz, Karton oder anderen Materialien trainieren die Kinder automatisch ihre Fantasie, also etwas nach ihren Vorstellungen entstehen zu lassen. Dabei machen sie wichtige Lernerfahrungen. Zum Beispiel, dass es mühsam sein kann, es Geduld und manchmal mehrere Anläufe braucht, um eine Burg aus Karton sauber auszuschneiden und zusammenzukleben. Beim Fernsehen hingegen lernen sie genau das nicht. Und je mehr die Kinder Bildschirmmedien konsumieren, umso weniger Zeit bleibt ihnen für diese realen Lernerfahrungen.
Fortsetzung: Morgen 20:00, gleicher Kanal
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Es ist lustig, denn obwohl ich quasi, ohne dies zu Wissen, in vielem “Gehirn-günstig” aufwachsen konnte, war eine der Probleme die dann als Erwachsene entdeckt wurden, genau diese Krux mit der Vorstellung. Also, dass ich manchmal-ohne ein Gefühl dafür zu haben wann oder ob das passiert- zwar Gesprochenes höre, oder Worte lese, oder mir selber etwas sage in Gedanken- ohne dass dieser bildlich imaginative Teil meines Gehirns anspringt.
Und das obwohl ich als Kind-und Jugendliche richtig viel gelesen habe- meistens abenteuerliche Geschichten. Und wenn ich gemerkt hab, es klappt nicht richtig mit der Vorstellung von Szenen, Schlössern, Drachen &co, hab ich auch langsamer gelesen, bis ich mir etwas Vorstellen konnte. Fernsehen gabs wenigstens bis zum Teenageralter nur ne halbe Stunde. Computerspiele spielten keine Rolle. Tägliches Klavierspielen.
Ich sage ja nicht, dass es mit weniger lesen und mehr digitalen Medien nicht noch um ein Vielfaches schwerer für mich geworden wäre. Gerade jetzt als Erwachsene nach dem Studium (und inzwischen mit Diagnose) habe ich zum ersten Mal richtig mitbekommen wie “freies interessegeleitetes Surfen” im Netz über mehrere Stunden zwar tierisch spannend ist und total Bock macht- aber hinterher kann ich nicht mal mehr so etwas einfaches geradliniges tun wie eine Dose Suppe aus dem Supermarktregal auswählen und zur Kasse gehen. Die Geschwindigkeit mit der meine Aufmerksamkeit immer wieder abbricht und ich immer wieder von Vorne Anfangen muss ist immens.
Einerseits verstehe ich also die Warnung vor bestimmten Medien und der Art des Konsums. Zugleich finde ich es aber auch ungerechtfertigt und problematisch, wenn ADHS manchmal in den (unwissenderen) Medien ausschließlich als “Neues Phänomen” unserer Zeit verkauft wird, verursacht durch zu viel Medienkonsum und zu wenig Lesen (oder im Zusammenhang mit Bildung & ‘sozialer Schicht’). Ich denke dann manchmal, alle diese angeblich ‘ursächlichen’ Kriterien haben bei mir auch nicht aufgehalten, dass meine Gehirnfunktionen regelmäßig wegpennen und mein Studium ADHS bedingt auseinanderbricht. So ein Pauschalurteil ist finde ich auch den Eltern von ADHS betroffenen Kindern gegenüber einfach nicht fair und verdeckt, dass ADHS andere Ursachen hat und manchmal auch noch andere Lösungen braucht als ‘mehr Lesen’.
Wo wir wieder bei Pippi Langstrumpf sind…
In den Büchern und bei Autoren begegnete man als ADSler meist als einzigem Ort anderen ADSlern (bevor es Internet-Foren und SHG’s gab). Schöne Erfahrung! Hier stimmte es auf einmal.. (hat mich allerdings jahrelang verwirrt, warum es in Büchern stimmt und im Leben nicht)