Konstruktive ADHS-Kritik (Teil 2: Schwachstelle im Bereich der ADHS-Diagnostik)
Schwachstelle im Bereich der ADHS-Diagnostik
Bei Verdacht auf Vorliegen einer ADHS kommt einer zuverlässigen Diagnostik ein hoher Stellenwert zu. Nur so können neben der Symptomatik, welche zur Vorstellung bei der Fachperson führten, allfällige zusätzlich vorhandene, therapierelevante Begleitprobleme erfasst und spezifisch wirksame Therapien empfohlen und eingeleitet werden. Immerhin geht es bei der Therapie von ADHS-Betroffenen meistens auch um den Einsatz von Psychopharmaka. Gerade bei Kindern ist dies mit einer besonders grossen Sorgfaltspflicht verbunden.
Die auch in der Psychiatrie allgemein akzeptierte Forderung, dass einer Therapie eine umfassende Diagnostik vorausgehen müsste, wird auch bezüglich der ADHS im Versorgungsalltag sehr unterschiedlich gehandhabt. Die Erfahrung zeigt, dass diesem Anspruch bei konsequenter Berücksichtigung der DSM-IV-Kriterien der ADHS in der Regel Genüge getan wird.
Die Klassifikationssysteme der DSM-IV und ICD-10 verlangen bei der Diagnose der ADHS zwingend (und zurecht), dass andere Störungen, welche ebenfalls mit Konzentrationsproblemen, Impulskontrollschwächen und anderen Defiziten der Exekutivfunktionen einhergehen können, als Ursachen der Probleme ausgeschlossen werden. So sollen falsch-positive ADHS-Diagnosen verhindert werden.
In den diagnostischen Kriterien der ADHS gemäss DSM-IV heisst es dazu in Punkt E:
“Die Symptome treten nicht ausschliesslich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z. B. affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).”
Als problematisch muss in diesem Zusammenhang der Umstand bezeichnet werden, dass die beiden internationalen psychiatrischen Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 bei der ADHS ausschliesslich psychopathologische, nicht aber neuropsychologisch beschreibbare Differenzialdiagnosen, wie zum Beispiel Entwicklungsstörungen des räumlichen Vorstellungsvermögens erwähnen.
Die Beschränkung auf eine rein psychopathologische Sicht bei der Überpüfung von möglichen Differenzialdiagnosen einer ADHS sowie die Vernachlässigung einer neuropsychologischen Perspektive erscheinen speziell bei diesem Störungsbild unangebracht: Selbst im Erwachsenenalter beruht eine ADHS bis in die Gegenwart hinein auf fortbestehenden neuropsychologisch beschreibbaren zerebralen Funktionsstörungen (was nicht heisst, dass diese zwingend in neuropsychologischen Tests abbildbar sein müssen).
Differenzialdiagnosen müssen nicht nur auf der Ebene psychopathologischer Erkrankungen oder psychosozialer Umstände Berücksichtigung finden, sondern vor allem auch auf der primären Ebene der neuropsychologisch beschreibbaren kognitiven Funktionsstörungen. Bei Kindern sind unter anderem räumlich-kognitive und/oder räumlich-konstruktive Störungen (also Störungen des räumlichen Vorstellungs- und/oder des räumlichen Umsetzungsvermögens) sowie Störungen der verbalen oder visuell-figuralen Gedächtnisfunktionen zu nennen. Patientinnen und Patienten mit diesen neuropsychologisch beschreibbaren Grundstörungen können, wie oben erwähnt, sekundär Aufmerksamkeits-, Lern- und Verhaltensstörungen zeigen, welche einer ADHS täuschend ähnlich sein können.
Dass die Vernachlässigung von neurokognitiven Störungen zu falsch-positiven ADHS-Diagnosen führen kann, habe ich wiederholt schon erlebt. Problematischer noch ist die Ausklammerung von neuropsychologischen Störungsbildern bei der Erfassung von Komorbiditäten. Es erfolgt in diesen Fällen dann nur eine medikamentöse Behandlung der ADHS, was bei Vorliegen von therapierelevanten Begleitproblemen dazu führt, dass es dem betroffenen Kind nicht wirklich besser geht.
Zusammenfassend halte ich fest, dass die aktuellen Versionen der DSM-IV und der ICD-10 durch die Einschränkung auf psychopathologische Differenzialdiagnosen falsch-positive Diagnosen begünstigen können.
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