Neue Diagnosen – neue Medikamente?
FAZ: Eine explosive Mischung, 06.07.2012
Die Gleichung ist (leider) einfach: Neue Diagnosen -> neue Medikamente.
Ab dem Kleinkindalter eine bipolare Störung diagnostizieren? Für die Pharmaindustrie (und wohl auch für Harvard-Professor Joseph Biederman, welcher – sofern die Informationen zutreffen – durch seine Forschungen reich geworden sein soll) sicher ein Segen.
Und für die Kinder?
Meiner Meinung nach wird häufig leider völlig außer Acht gelassen, dass es sich immer um Individuen handelt, die ihre eigene Persönlichkeit, mit ihren eigenen Erfahrungen in einer sich stetigen ändernen Umwelt entwickeln und Einflüsse aller Art (mediale, soziale, technische) immer in Wechselwirkungen stehen. Sicher sind kategorische Diagnosen wichtig; allerdings verfehlen sie Person mit ihren Bedürfnissen und ganz eigenen Besonderheiten. Möglicherweise entwickeln sich auch psychische Störungen anders (zumal diese nicht unerheblich auch gesellschaftlich konstruiert werden) und sind eben nicht stetig. Mehr Diagnosen und immer weitere Aufspaltung nützen da meines Erachtens wenig. Die Hilfestellung des Einzelnen, die adäquate Versorgung und individuelle Behandlung und vor allem die Verfügbarkeit von Hilfesystemen sind da wesentlich notwendiger, als die ständige Etikettierung von Auffälligkeitn. Aber leider muss ich zumindest in meiner Region feststellen, dass die Unterversorgung von psychisch “Auffälligen” weiter voranschreitet.
Von der Idee, das kleine Kinder ausgewachsene bipolare Störungen haben können, war ich nie überzeugt. Und jetzt noch ein neues Etikett. Nein, ich denke nicht, dass dies hilfreich ist für die Kinder. Mein Eindruck als Laie ist, dass solche Diagnosen davon ablenken (sollen?), dass es (auch für Fachleute) extrem schwierig ist, die Gesamtproblematik solcher Kinder und ihrer Umgebung auf Anhieb zu erfassen und zu verbessern. Denn diese Erwartung hat unsere Gesellschaft mehr und mehr: alles muss benannt und therapiert werden – und zwar subito und mit Erfolg!